Dienstag, 18. November 2008

Die pragmatische Seite der Hamas

Israel, die USA und die Europäische Union halten die «Bewegung des islamischen Widerstandes» – besser bekannt als «Hamas» – für eine Terrororganisation. Umso überraschter war man im Westen, als das palästinensische Volk diese Bewegung im Januar 2006 in freien, geheimen und demokratischen Wahlen mit absoluter Mehrheit an die Macht wählte. Erstmals gab es in der arabischen Welt einen demokratischen «Regimewechsel». Ein Boykott war die westliche Antwort auf den Entscheid des palästinensischen Souveräns.

Seit dem Wahlsieg der Hamas sind zahlreiche Bücher über die Organisation erschienen, welche sie entweder dämonisieren oder in rosaroten Farben beschreiben. Khaled Hroub, säkularer Palästinenser, gehört zu den besten Kennern der Hamas. Bereits sein erstes Buch «Hamas – Political Thought and Practice» zeugte von profunden Insiderkenntnissen. Was der Leiter des Projekts für arabische Medien an der Universität Cambridge schreibt, passt so gar nicht in ein westliches Klischee. Ihn deswegen als «Terror-Sympathisanten» zu betrachten, wäre ungerecht.

Die zwölf Kapitel folgen einem Frage-und-Antwort-Raster. Im Einzelnen werden die Geschichte, die Ziele, die soziale und politische Strategie, das Verhältnis der Organisation zu Israel und zum Judentum, zum internationalen Islamismus und zum Westen, die interne Führungsstruktur und das Verhältnis zur eigenen Bevölkerung sowie die Zukunft der Organisation behandelt.

Im Zentrum der Kritik an der Hamas steht neben dem Terror auch immer deren Charta aus dem Jahre 1988, die sich durch eine antijüdische und antisemitische Rhetorik auszeichnet. Ihr Autor gehörte einer völlig von der Aussenwelt abgeschnittenen «alten Garde» an. «So fanden alle möglichen Verwechslungen und Vermischungen von Judentum und Zionismus ihren Weg in die Charta, was der Hamas seitdem sehr geschadet hat.» Hroub betont immer wieder, dass sich kein Hamas-Funktionär mehr darauf berufe.

Als Beispiel für den Pragmatismus führt er das Wahl- und Regierungsprogramm von 2006 und das Handeln der Funktionäre nach dem Wahlsieg an. War in den achtziger und neunziger Jahren oft von «Jihad» (heiligem Krieg) die Rede gewesen, stehen nun praktisch-politische Erwägungen im Vordergrund. «Schon der Vorrang solcher Erwägungen zeigt, wie sehr die Hamas bereit ist, ihre ideologischen und scheinbar starren Überzeugungen ihren pragmatischen politischen Zielen unterzuordnen.» In ihrer Rhetorik werde zwar weiterhin der «Widerstand» betont, obgleich dieser gar nicht mehr aktiv sei. Der Autor zitiert aus einem Interview von Khaled Mishal aus dem Jahr 2007: «Widerstand ist kein Ziel an sich, sondern Mittel zu einem Ziel.»

Völlig verneint wird die Frage, ob die Hamas eine antisemitische Bewegung sei. Hroub betont, dass der Koran keine Grundlage für religiöse, ethnische oder rassistische Diskriminierungen biete, «die zu einem Antisemitismus europäischer Art oder dessen Manifestationen führen könnte». Der Autor stellt zu Recht fest, dass der Antisemitismus ein europäisches Produkt ist und in der arabischen Welt unbekannt war. Erst mit der zionistischen Besiedelung und der «Schaffung Israels per Dekret und auf Kosten der palästinensischen Ursprungsbevölkerung, die seit über zweitausend Jahren friedlich in diesem Land gelebt hatte, begannen die ursprünglich unterschiedenen Begriffe und einerseits und und andererseits immer mehr dieselbe Bedeutung anzunehmen».

Erst durch die Zustimmung zur Staatsgründung durch die USA und Europa «verwandelten sich die Juden/Zionisten in den Augen der Palästinenser und Araber schliesslich in Vertreter einer kolonialen Militärbesatzung», wodurch die friedliche Koexistenz zerstört worden ist. Die Hamas, schreibt Hroub, «ist antizionistisch und nicht antijüdisch». Ebenso unkonventionell ist folgende Behauptung: «Seit Hamas an der Macht ist, leben die Israelis sicherer.»

Dieses Buch liegt völlig konträr zu dem, was im Westen von vielen über die Hamas gedacht wird. Wäre es nicht angebracht, solches Denken einmal auf den Prüfstand zu stellen? Die Gegenfrage ist aber ebenso berechtigt: ob dem Buch nicht eine grössere Distanz zu seinem Thema ebenso gut getan hätte. Lesenswert ist es allemal.

Zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung vom 7. 11. 2008.