Dienstag, 29. Dezember 2009

Mensch bleiben

Genau vor einem Jahr, am 27. Dezember 2008, öffneten sich die „Pforten der Hölle“ für die Bewohner des Gaza-Streifens. Die viert stärkste Armee der Welt startete einen Angriff gegen eine wehrlose Bevölkerung, die darüber hinaus eingesperrte und gefangen gehalten - in dem größten „Freiluftgefängnis“ der Welt -, ihren Besatzern, den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF), wehrlos ausgeliefert war. Abgesehen von der menschlichen Tragödie - 1 400 Palästinenser, überwiegend Frauen und Kinder wurden getötet – und den massiven Zerstörungen, zeichnete sich die Weltöffentlichkeit durch Schweigen aus. Präsident-elect, Barack Hussein Obama, spielte Golf auf Hawai. Weder von ihm noch dem Noch-Präsidenten George W. Bush dem Jüngeren war etwas zu hören, das sich wie Kritik angehört haben könnte. Westliche Werte standen bei diesem Angriff nicht zur Disposition. Die Leidtragenden waren ja Palästinenser. Der Wall des Westens stemme sich gegen die Barbarei, wie einst Theodor Herzl Israels Rolle in dieser Region umschrieb. Oder sollte nur die „Villa im Dschungel“ verteidigt werden, wie vor Jahren Verteidigungsminister Ehud Barak Israel euphemistisch nannte? 14 israelische Soldaten verloren bei diesem Angriff ihr Leben, drei davon durch so genanntes “friendly fire“, das heißt, sie wurden von den eigenen Kameraden getötet.

Über dieses „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie es Richter Richard Goldstone aus Südafrika nannte, liegen Dokumentationen von Amnesty International, Human Rights Watch und den Vereinten Nationen vor. Besagter Richter Goldstone hat im Auftrag der Menschrechtskommission der UN den Bericht vorgelegt, an dessen Seriosität kein Zweifel besteht. Gleichwohl haben die USA, Israel und – man höre und staune- auch Deutschland in den Vereinten Nationen dagegen votiert. Dieses Votum ist ein Schlag ins Gesicht des Völkerrechts. Diese drei Dokumentationen reichen nicht im Entferntesten an den Augenzeugenbericht des italienischen Journalisten Vittorio Arrigoni heran.

Arrigoni, Journalist und Pazifist der Internationalen Solidaritätsbewegung (ISM), hat sich vor Ort nicht nur für das Überleben der Menschen eingesetzt, sondern auch für die italienische Zeitung „Il Manifesto“ berichtet. So erfuhr wenigstens die Weltöffentlichkeit etwas über das Grauen dieses Krieges. Die Bilder und Nachrichten, welche die israelischen Besatzungstruppen der Weltpresse zur Verfügung gestellt haben oder von dieser von einem Hügel und aus sicherer Entfernung übermittelt worden sind, erweckten eher den Eindruck eines „Feuerwerks“, das Schaulustigen „Urlaubern“ dargeboten worden ist.

„Wenn man die Waffengewalt besitzt und keine moralischen Skrupel vor der Ermordung von Zivilisten hat, entsteht die Situation, deren Zeugen wir nun in Gaza werden“, so Ilan Pappé, der wegen seiner Meinung zum Nahostkonflikt von seinem Lehrstuhl an der Universität Haifa gemobbt worden ist und nun in Großbritannien wieder frei lehren kann. Pappé macht die Ideologie des Zionismus für diese Untaten verantwortlich. „Wir müssen nicht nur der Welt, sondern auch den Israelis selbst erklären, dass der Zionismus eine Ideologie ist, die ethnische Säuberungen, Besetzungen und jetzt auch massive Tötungen beinhaltet.“

Ich erspare mir die Schilderung dieses 22-tägigen Grauens. Jeder Leser sollte es sich selber zumuten. Die Menschen im Gaza-Streifen wissen nur zu gut, wem sie ihr Elend zu verdanken haben. Für den Palästinenser namens Iyad sind es „amerikanische Bomben“, die die Handschrift von Ägyptens Präsidenten Hosni Mubarak tragen, der meint, mit Israel in Gaza um den „Hass“ der Menschen konkurrieren zu müssen. Ägypten beteiligt sich auch am Bau einer Stahlmauer entlang seiner Grenze zum Gaza-Streifen, damit auch noch die letzten „Transportwege“ geschlossen werden, welche das Überleben der Menschen sichern helfen.

Israel wollte mit diesem Angriff der Hamas den Garaus machen. Für den unbefangenen Beobachter nicht überraschend, konstatiert Arrigoni, dass dieser Angriff Hamas in keiner Weise geschadet, sondern ganz im Gegenteil, die Organisation an Rückhalt in der Bevölkerung gewonnen habe. Wer - wie der palästinensische Präsident Abbas - Verständnis für den Angriff der Israelis gegen sein eigenes Volk geäußert hat, darf nicht überrascht sein, dass die westliche Staatengemeinschaft, die ihn als Präsident umschwänzelt, in dieser Region auf verlorenem Posten steht.

Vor kurzem sind die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen verschoben worden. Die Mitglieder der deutschen Seite sollten das schmale Bändchen doch einmal zur Kenntnis nehmen, bevor sie sich in naher Zukunft mit ihren israelischen Kollegen an einen Tisch setzen. Vielleicht überlegt es sich der Eine oder die Andere. Falls zum Lesen keine Zeit bleibt, sei ein Ausspruch des amtierenden israelischen Außenministers in Erinnerung gerufen, der für das „Problem“ Gaza-Streifen das US-amerikanische Szenario von Hiroshima und Nagasaki empfohlen hat. Dass der Fall-Out an der Mauer von Gaza nicht Halt macht, sollte auch er wissen. „Mensch bleiben“, sollte den Reisenden zum Abschied und als geistige Wegzehrung mit auf den Weg gegeben werden. Die Rückseite des Covers ziert ein Satz, den ein israelischer Minister „anonym“ als Werbung für dieses erschütternde Buch geschrieben hat: „Wenn die enormen Zerstörungen im Gazastreifen bekannt werden, kann ich nicht mehr als Tourist nach Amsterdam gehen, sondern nur noch vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag erscheinen.“ Wohl wahr!