Samstag, 7. August 2010

"Wir haben eine sehr unzulängliche Führung"

Interview mit Rabbi Jeremy Milgrom, Jerusalem, Israel. Die Fragen wurden gestellt von Ludwig Watzal, Journalist, Bonn.

Was denken Sie über Israels Behandlung der Gaza-Freedom-Flotilla?

Ziemlich übel. Exzessive Gewaltanwendung. Wir kennen dies schon seit langer Zeit, wenn es zu Demonstrationen mit Palästinensern kommt. Dieses Mal war es exzessive Gewaltanwendung gegen Europäer und Internationale in völlig unangemessener Weise. Vor sieben Jahren wurden Rachel Corrie und Tom Hurndall getötet. Die Leute heute tun nichts Illegales. Sie versuchten, nach Gaza zu kommen. Das sind schreckliche Momente für die israelische Gesellschaft.

Denken Sie, die israelische Regierung wird nach dem Mord an neun türkischen Bürgern ungeschoren davonkommen?

Ungeschoren davon kommen hängt von der Art der internationalen Strafe oder den Konsequenzen ab, die es geben wird. Die Verschlechterung der Beziehungen mit der Türkei ist ein schwerer Fehler in Bezug auf die israelischen Prioritäten, und ob die hinter der Entscheidung stehenden Leute strafrechtlich verfolgt werden, bezweifle ich. Mögen doch endlich Israelis für Verbrechen auf der internationalen Ebene verantwortlich gemacht werden. Eine der wahrscheinlichen Auswirkungen durch die globale Aufdeckung von Israels harter Behandlung des Gazastreifens könnte eine Lockerung der Blockade sein. Die USA meint es ernst, wenn sie sagt, die Situation im Gazastreifen sei unannehmbar. Es ist wieder die Frage, ob Obama nur redet oder ob er diesmal handelt – wir werden sehen.

Während man die bescheidene US-amerikanische Reaktion auf den Mord der neun Zivilisten sieht und wie der Vizepräsident Joe Biden während seines letzten Besuches in Israel behandelt wurde, könnte man da einigen US-Druck auf Israel erwarten? Biden scheute keine Mühen und erklärte in Israel als Vizepräsident der USA: „Es ist gut, wieder zu Hause zu sein.“ Dieses Zitat fand sich nicht in den US-Medien. Einerseits sagte Obama, dass die Behandlung eine Beleidigung seines Landes sei, andrerseits gab es den enormen Druck durch Interessengruppen, die sie eine Meinungsverschiedenheit unter Freunden nannten. Wenn man all dies in Betracht zieht, was denken Sie, wird die USA gegenüber Israel härter reagieren?

Ich denke, dass der politische Mut, den Obama zu Beginn seiner Amtszeit zeigte, um die Politik der Clinton- und Bush-Ära zu verändern, zögerlich geworden ist. Nun im Fall der Gazaboote hört man ein eindeutigeres amerikanisches Statement, aber ich weiß nicht, ob es dabei bleibt. Persönlich bin ich sehr froh, dass die USA mit den andern 188 Ländern gestimmt hat, im Nahen Osten eine atomwaffenfreie Zone zu schaffen. Es ist ein Abschied von der früheren US-Politik, die Israels Atomwaffenpolitik vollkommen unterstützte. Es ist ein Schritt weg davon. Mein Gefühl ist, die Rücksichtslosigkeit der israelischen Reaktion gegenüber den Booten sollte eine Menge Leute nervös machen, genau wie die Tatsache, dass Israel immer Atombomben hat. Was für eine schlechte Wahl der Taktiken durch Israel, um auf eine Nichtbedrohung zu reagieren wie im Fall der Boote. Man stelle sich die Reaktion vor, wenn es eine reale Bedrohung aus dem Iran gewesen wäre. Bibi (Netanjahu) redet darüber seit 15 Jahre. Es ist sein Motto, diese Trommel zuschlagen. Es passt zur israelischen Mentalität, dass wir die Opfer sind, dass wir bedroht sind, und all dieses Zeug. Dem israelischen Drängen auf Sanktionen gegen den Iran ist durch diese Überreaktion auf die Boote ein Schlag versetzt worden.

Gehen wir ein wenig in die Psychologie. Schauen wir uns das Bombardement im Libanon von 2006, das „Massaker“ im Gazastreifen 2008/09 und jetzt den Angriff gegen die internationale Solidaritätsbewegung an. Warum reagiert die israelische Regierung immer mit solcher Brutalität?

Die Idee immer und zuerst Gewalt anzuwenden statt als letzten Ausweg, hat damit zu tun, wer die Persönlichkeiten sind, die Verantwortung tragen. Wir haben eine Gruppe von sieben, welche die Entscheidungen treffen (das sog. Sicherheitskabinett L.W.) Wenn wir auf drei der sieben schauen, so waren diese selbst Kommandeure: Netanyahu, Yaalon, Barak. Lieberman und Yishai sind verrückt, sie sind Menschen, denen man keine Macht geben sollte. Wir haben eine sehr unzulängliche Führung.

Hat die Gewaltanwendung etwas mit dem Holocaust-Trauma zu tun?

Es gibt ein anormales Maß an Ängsten. Ich denke dabei an Ängste, die von oben fabriziert wurden. Durch diese Angst wird in Bezug auf jeglichen Ärger das, was wir im Holocaust erlitten haben, aus dem christlichen Europa in den muslimischen Nahen Osten umgeleitet. Ich glaube, dies ist eine Manipulation. Aber ich denke auch, dass die Israelis wirklich Angst haben. Der palästinensische Widerstand, der auch gewalttätig war, ist eine Katastrophe gewesen, weil dies die israelische Haltung verhärtet hat. Israelis fürchten sich deshalb vor jeder Veränderung, wie zum Beispiel ein Stück Land abzutreten oder den Palästinensern irgendeinen geographischen Vorteil zuzugestehen, selbst wenn sie dabei ein schlechtes Gewissen haben.

Was denken Sie, ist es gut, am Holocausttrauma als einem politischen Instrument für eine ganze Gesellschaft fest zu halten oder Kinder mit diesen Schrecken groß zu ziehen?

Ich denke, man kann den Holocaust nicht ignorieren.

Natürlich nicht.

Aber ich denke, die Israelis haben die falschen Lehren daraus gezogen. Als erstes gilt, dass der Holocaust sich „nie wieder“ für Juden ereignen darf. So etwas darf nie wieder geschehen. Punkt.

Natürlich kennen Sie Yehuda Elkanas berühmten Aufsatz „Die Notwendigkeit zu vergessen“, den er in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ am 2. März 1988 veröffentlichte. Abi Melzer hat ihn gerade in seiner letzten Nummer von „Der Semit“ wieder veröffentlicht.

Das ist gut. Es ist ein erstaunlicher Artikel.

Ich las ihn gerade, bevor ich hierher kam. Elkana sagte, dass die Israelis lernen sollten zu vergessen. Und er fuhr fort, dass es „die größte Bedrohung für die Zukunft Israels sei“. Was denken sie darüber?

Wir haben so viele pädagogische Herausforderungen. Die israelischen Schulen haben die Verpflichtung auf sich genommen, Soldaten zu erziehen. Die Schulen haben Soldaten produziert, und das ist schief gegangen. In den ersten Jahren war ich in Yesh Gvul (Es gibt eine Grenze L.W.) engagiert. Sie unterstützte Soldaten, die sich weigerten, im Libanon Militärdienst abzuleisten. Ich sah mich selbst mit dem Problem konfrontiert, im Libanon Dienst zu tun. Ich kam zu der Schlussfolgerung, dass es die Aufgabe der Regierung ist, die einen Krieg führen will, dass sie ihre Bürger überzeugt, dass es ein notwendiger Krieg ist. Wir müssen in die Notwendigkeit des Krieges glauben. Wenn die Regierung versagt, kann man nicht eine Person bestrafen. Es ist das Versagen der Regierung, sie zu überzeugen. Die Aufgabe des Pädagogen ist es, den Schülern zu helfen, gute Entscheidungen zu treffen, die sich auf Moral und Werte gründen und nicht darauf, einfach Befehlen zu gehorchen.

Könnten Sie der Schlussfolgerung von Elkana folgen?

Programmatisch ist es unmöglich. Man kann nicht vergessen. Es ist ein Wunsch, den er ausspricht. Der Holocaust hängt uns am Hals, aber pädagogisch muss man sich sachgemäß damit aus einander setzen und keine Instrumentalisierung erlauben und verallgemeinern und sagen: wir allein sind die Opfer, sonst niemand. Auf dem Weg nach Deutschland las ich eine Zeitung. Ein Soldat (der beim Überfall auf die Flotille dabei war L.W.) wurde wie folgt zitiert: „Sie wollen uns lynchen.“ Zunächst einmal wurde kein einziger Soldat getötet. Sie nahmen drei Soldaten gefangen, sie töteten sie nicht. Die Zeitung interviewte den Kapitän R. im Krankenhaus (Sie gaben seinen Namen nicht preis). Er sagte, dass jeder, der gegen uns auftrat, uns töten wollte. Dies ist eine sehr subjektive Ansicht. Dies ist die Mentalität, „alle seien gegen uns“. Obwohl man schwer bewaffnet ist, ein Schiff illegal entert, sagt er, sie wollten uns töten. Wie mag sich da erst die andere Person gefühlt haben?

Sie sind noch immer ein Mitglied der Organisation „Rabbiner für Menschenrechte“?

Ich bin die loyale Opposition. Ich gehöre noch dazu, aber ich bin mit vielem nicht einverstanden.

Was ist der Unterschied zwischen dieser Organisation und den andern jüdisch religiösen Gruppen? Warum benötigt man eine spezielle Organisation, die sich um die Menschenrechte kümmert? Wie ist es mit dem offiziellen jüdisch religiösen Establishment? Kümmern sie sich nicht um die Menschenrechte der Palästinenser? Leben sie nicht nach der jüdisch humanitären Tradition, nach der man sich um den Nächsten/den Fremden in seiner Mitte kümmert?

So sollte es sein. Aber offensichtlich gab es die Notwendigkeit, eine Erklärung abzugeben, dass wir Rabbiner für Menschenrechte sind, weil das rabbinische Establishment nicht auf diese Notwendigkeit reagierte. Tatsächlich dient es nur jüdischen Interessen. Man könnte im vulgären Sinne sagen, die Rabbiner sind Cheerleader. Während des Angriffes auf den Gazastreifen haben die Armeerabbiner und die anderen mitgebrachten Rabbiner die Begeisterung der Soldaten angeheizt und gesagt, sie sollten keine Gnade zeigen, sondern brutal sein. Das ist buchstäblich so protokolliert und berichtet worden. Ich denke es bedarf einer gravierenden Neuausrichtung ihrer Prioritäten, um die Nachricht zu ändern. Inzwischen sind die Rabbiner für Menschenrechte eine sehr kleine Minderheit. Es gibt viele Israelis, die erfreut und erleichtert sind, dass es eine Stimme wie die der Rabbiner für Menschenrechte gibt.

Gibt es keine Kritik seitens der israelischen Öffentlichkeit über aufwiegelnden Erklärungen gegen das palästinensische Volk von „religiösen“ Funktionsträgern?

Man sollte daran denken, dass Israel eine sehr gespaltene Gesellschaft ist. Was die israelische Öffentlichkeit eint, ist die Angst vor den Palästinensern; ein gewisses Gefühl von Egoismus, dass dieses Land uns gehört und sie nicht hier sein sollten, oder es sollte ihnen nicht auf unsere Kosten gegeben werden. Aber im Inneren ist es tief gespalten. Zum einen gibt es die Spaltung zwischen der religiösen und der nicht religiösen Gesellschaft. Hier gibt es eine Menge Probleme, die Zorn und Ärger gegen die Rabbiner verursachen, wie z.B. die Tatsache, dass die Heirat ein religiöses Monopol ist. Man kann nur nach dem jüdischen Gesetz heiraten, oder man muss nach Zypern reisen, um dort vor dem Standesamt zivil zu heiraten. Als Reform-Rabbiner ist es illegal, ein Paar zu trauen. Eine solche Trauung ist ungültig.

Ist die Arbeit der Rabbiner für Menschenrechte auf das eigentliche Israel beschränkt oder befassen Sie sich auch mit den besetzten palästinensischen Gebieten? Sind die Rabbiner für Menschenrechte nur gerade das gute Gewissen für die israelische Gesellschaft?

Sie begannen mit einer Reaktion auf die Verletzung der Menschenrechte. Rabin gab 1988 den Befehl, den palästinensischen Demonstranten die Knochen zu brechen. Die Intifada war der Auslöser, der uns veranlasste, aufzustehen. Wir kümmern uns aber auch um interne soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten, die nichts mit Palästinensern zu tun haben. Aber ihr guter Ruf hängt mit der Misshandlung der Palästinenser zusammen. Jeder sagt, wir seien gegen Armut. Aber dass Rabbiner sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, das ist ungewöhnlich, wenn alles polarisiert ist, und Judentum als etwas angesehen wird, um das jüdische Privileg zu schützen und nicht den göttlichen Funken in jedem menschlichen Wesen zu sehen.

Sehen Sie die Rabbiner für Menschenrechte als eine zionistische Organisation an?

Es ist eindeutig eine zionistische Organisation. Ich denke, ich bin der einzige Rabbiner, der offen sagt, ich bin kein Zionist. Es bedeutet nichts. Es ist anachronistisch, es ist problematisch, es ist eine nette Idee, aber sie kann heute nicht angewendet werden, ohne Diskriminierung und andere Missstände mit sich zu bringen.

Verstehen Sie sich selber als Nicht-Zionist oder als Anti-Zionist?

Das hängt von meiner Stimmungslage ab. Meine Beziehung zu meiner zionistischen Vergangenheit empfinde ich als naiv. Ich bin ein bisschen ärgerlich über meine Eltern, die mich zionistisch erzogen haben. Sie wissen dies. Ich betrachte den Zionismus jetzt als eine Phase im jüdischen Leben, von der ich hoffe, dass sie der Vergangenheit angehört und nicht weitergeht. Und ich glaube, dass in nicht all zu ferner Zukunft die Israelis die Idee des Zionismus als nicht sehr nützlich, praktisch oder hilfreich finden, um ihre Probleme zu lösen.

Aber das ganze Gebäude des Staates ist doch rund um diese Ideologie gebaut. Es gibt viele Kritiker des Zionismus, die sagen, man müsse sich nur davon lösen. Das würde es viel leichter machen, mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Sie behaupten, Israel solle ein normaler westlicher demokratischer Staat werden und alle die Gesetze aufheben, welche die jüdischen Israelis gegenüber den nichtjüdischen privilegieren. Kein seriöser Kritiker des Zionismus leugnet Israels Existenzrecht; sie hinterfragen allerdings seinen zionistischen Charakter. Für sie ist eine „De-Zionisierung“ die Voraussetzung für Frieden und eine friedliche Koexistenz in der Region. Stimmen Sie mit diesen Kritikern überein?

Ich denke, dass der Zionismus seine Kraft als einigendes Prinzip in Israel verloren hat. Die zionistische Bevölkerung ist in zwei Gruppen gespaltet: die zionistische Bevölkerung und die Nicht-Zionisten oder Post-Zionisten. Bei der national-religiöse Öffentlichkeit, die wir die „knitted Kippah“-Öffentlichkeit nennen (Nationalreligiöse Juden sind an ihrer gestrickten Kippa zu erkennen), sehe ich kein Preisgabe des Zionismus. Zionismus steht für viele verschiedene Dinge. Zum Beispiel erlaubt er solche Brutalitäten wie die Invasion in den Gazastreifen. Im säkularen Teil der israelischen Gesellschaft sehe ich eine schrittweise Aufgabe des Zionismus. Die Spaltung der Gesellschaft hat schon begonnen. Der zionistische Traum ist wie die islamische Vorstellung von diesem Land als die eines islamischen Besitzes. Man fühlt es in seinem Herzen und man erzieht seine Kinder danach. Aber wie ist es mit dem Staat? Wie soll er funktionieren? Der Staat des jüdischen Volkes ist etwas, das vergangen ist, der ständig eine Kluft zwischen Juden und Palästinensern schafft. Ich will, dass mein Judentum durch meine Ausbildung und meine Kultur und nicht durch einen Staat geformt wird.

Kritiker behaupten, dass Israel auch ohne Zionismus leben kann. Er ist wie die Ideologie des Kapitalismus. Ursprünglich kam die Idee des Kapitalismus vom Protestantismus. Sein Wertesystem ist nicht mehr nötig für das Funktionieren des westlichen kapitalistischen Systems. Das System läuft von alleine. Israel ist 62 Jahre alt. Es hat sich im internationalen System gut eingerichtet. Es verfügt über einen riesigen Militärapparat und ist sehr mächtig. Benötigt es denn noch die zionistische Ideologie?

Ich stimme mit Ihnen überein, dass Israel auch ohne Zionismus lebensfähig wäre, und es viel besser sein würde, wenn Juden und Palästinenser in Israel als Partner zusammenarbeiten würden und nicht eine Situation vorherrschen würde, in der die Palästinenser 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sich immer marginalisiert fühlen und ohne Bürgerrechte sind, wenn immer nur von einem jüdischen Staat die Rede ist. Ich denke, für Israels Heilung wäre es nötig, den riesigen Militärapparat - von dem Sie als einem Zeichen von Stärke reden - los zu werden. Ich denke, es ist ein Zeichen von Schwäche, einem Zeichen von Unsicherheit. Dies zeigt auch Israels Reaktion gegenüber der Flotille.

Sie sind auch im interreligiösen Gespräch engagiert. Ist dies ein trilateraler Dialog? Oder sind dies nur Treffen, bei denen israelische Intellektuelle und ihre europäischen Partner miteinander reden? Ich denke, in Israel kümmert sich keiner um interreligiösen Dialog. Ist dieser Eindruck richtig?

Grundsätzlich stimme ich mit Ihnen überein. Es betrifft nicht die Basis. Vergessen Sie nicht, dass der überwältigende Teil der religiösen Juden in ihren Ansichten zum rechten Flügel gehören. Sie sind nicht daran interessiert. Sie sehen dies als eine Art Betrug ihrer Prinzipien. Leute, die von jüdischer Seite zu einem interreligiösen Dialog gehen, sind liberal oder gar nicht religiös. Man sieht hauptsächlich europäische und amerikanische Christen und auf muslimischer Seite hauptsächlich Sufis, aber diese repräsentieren nicht die muslimische Bevölkerung. Sie repräsentieren eine Art New-Age-Sache, was gut ist. Man redet nicht von einem Treffen gleichwertiger Partner. Die jüdische Seite dominiert. Die Aktivitäten sind sehr marginal. Das Traurigste bei diesem interreligiösen Dialog ist, das dieser, obwohl er die Fassade der geistigen Offenheit hat, tatsächlich etwas ist, das die wirklich wichtigen moralischen Themen vermeidet, weil er strukturell von Juden dominiert ist und die Palästinenser eine Feigenblattrolle spielen. Man nimmt dort als eine Vorzeigeperson teil, nicht wirklich frei, seine Meinung zu sagen. Es ist nicht das Judentum, auf das wir seit Tausenden von Jahren stolz sind. Es ist das, was Marc Ellis „Konstantinisches Judentum“ nennt. Wirkliches jüdisches Leben dreht such um den Sabbat. Mein jüdisches Leben versucht heute auf irgendeine Art, das Abtriften des Judentums von übermäßiger Inanspruchnahme der Gewalt zu korrigieren. Was für ein Unterschied. Religiös wurde das „uns“ definiert durch die Einhaltung des Sabbats. Heute bitten wir um Hilfe, damit wir wieder zu „uns“ selbst zurückfinden und uns wie Menschen verhalten und nicht wie Barbaren. Was für ein anderes Judentum ist das?

Wie sieht Ihre Lösung des Konfliktes aus? Sollte es ein jüdischer Staat sein neben einem palästinensischen Staat? Sollte es ein binationaler Staat sein? Was meinen Sie, würde das Beste für beide Völker sein?

Die überwältigende Mehrheit ist für die Fortsetzung Israels als ein jüdischer Staat. In Wirklichkeit ist es kein jüdischer Staat. Weder was sein Verhalten betrifft noch was die Aussichten betreffen, jüdisch und demokratisch zu bleiben. Es gibt eine gleich große Anzahl von Juden und Palästinenser in dem Gebiet, das Israel kontrolliert. Die Juden, die ihre Hoffnung in fortgesetzte jüdische Herrschaft investieren, betrügen die jüdische Moral. Ich denke, wenn wir zusammen in einem Staat leben, ist dies ein besserer Weg, um Probleme zu lösen, als der Traum und die Versuche, zwei Staaten zu schaffen. Eine Zwei-Staatenlösung ist eine Illusion. Ein stabiler Frieden würde das Rückkehrrecht der Flüchtlinge bedingen. Das macht uns zu einer Minderheit. Für mich wäre das ganz gut.

Herr Milgrom, danke für das Interview.

Jeremy Milgrom ist Mitglied der Rabbiner für Menschenrechte“ und Teilnehmer beim interreligiösen Dialog in Israel. Er lebt in Jerusalem.

Übersetzung ins Deutsche: Ellen Rohlfs, Leer.
Foto: Sylvia Samad-Tari, Köln.

Erschienen in der Unabhängigen jüdischen Zeitschrift "Der Semit". Zuvor in gekürzter Form erschienen in Englisch in CounterPunch und komplett hier.