Samstag, 31. Dezember 2011

Saree Makdisi, Palästina - Innenansichten einer Belagerung

„Palästina – Innenansichten einer Belagerung“ ist keine Chronik israelischer Besatzungspolitik oder des Widerstandes, sondern eine Darstellung des alltäglichen Belagerungszustandes der Menschen in Palästina, die einem auf Militärrepression gegründeten Besatzungsregime ausgesetzt sind. Die konzisen Ausführungen des Autors, der als Professor englische Literatur und vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California (UCLA) in Los Angeles lehrt, zeigen, dass kein normales Leben in der Westbank und dem Gaza-Streifen möglich ist. Die tagtäglichen Erniedrigungen, Misshandlungen und gewaltsamen Übergriffe des israelischen Militärs und der Besatzungsbehörden berauben die Menschen ihrer Würde und Menschenrechte und machen sie zu Objekten einer unberechenbaren Willkürherrschaft, die das Ziel verfolgt, den Widerstandswillen eines ganzen Volkes zu brechen und es zur Aufgabe und Auswanderung zu bewegen.

Das Besondere an der israelischen Besatzungsherrschaft über das palästinensische Volk besteht in der allumfassenden Durchdringung aller Lebensbereiche mit Hilfe einer erdrückenden Bürokratie, einem System von Genehmigungen und Pässen und einem Geflecht vom Militär auferlegter Verordnungen und Erlassen, denen die Menschen Folge leisten müssen, um überhaupt ein Leben führen zu können, schreibt der Saree Makdisi. Das von Israel besetzte Palästina ist der einzige Ort auf der Erde, an dem die inhärente tagtägliche Gewalt am deutlichsten sichtbar wird. Dieser Belagerungszustand durchzieht und bestimmt jeden Aspekt des Lebens der Menschen von der Wiege bis zur Bahre.

Das Buch gliedert sich in drei Kapitel: Außen, Innen und Koda. In dem Abschnitt „Außen“ beschreibt der Autor die Kontrollpraktiken, durch die Israel die Bewegungsfreiheit und den Kontakt der Menschen zur Außenwelt verhindert, während die Enteignung der Existenzgrundlagen forciert vorangetrieben wird, um Siedlerkolonien nur für jüdische Israelis zu bauen, deren Bewohner dann auf Straßen fahren, die nur jüdischen Israels vorbehalten sind. Das „Straßensystem“ für die Palästinenser dagegen ist mit Kontrollposten übersät.

Im Abschnitt „Innen“ konzentriert sich der Autor auf die Auswirkungen der Besatzung auf die Familien. Neben einer Politik der Häuserzerstörung versucht die israelische Regierung alles, um z. B. Familienzusammenführungen von Palästinensern, die in Ost-Jerusalem und der Westbank leben, zu verhindern. Ebenso zielt die Politik darauf ab, die Aufenthaltsgenehmigungen von Palästinensern besonders in Ost-Jerusalem zu annullieren. Diverse Gesetze sichern der jüdischen Bevölkerung Israels Privilegien gegenüber der nicht-jüdischen. Diese institutionalisierte Diskriminierung findet in zirka 30 Gesetzen ihren „legalen“ Ausdruck.

Im letzten Abschnitt „Koda“ vergleicht Makdisi das gescheiterte Apartheid-Regime in Südafrika und das militärische Besatzungsregime, das die Palästinenser beherrscht. Die Ausführungen zeichnen sich durch unzählige Einzelfallbeispiele und persönliche Berichte von Betroffenen aus. Besonders verheerend wirkt sich der völkerrechtswidrige Bau der Mauer und des Sicherheitszaunes auf das tägliche Leben der Menschen aus.

Obgleich die vierte Genfer Konvention von 1949 genau regelt, was eine Besatzungsmacht tun darf und was nicht, werden diese völkerrechtlichen Grundregeln durch die israelischen Regierungen missachtet, ignoriert bzw. ihnen zuwidergehandelt. Dies trifft zum Beispiel auf den Transfer von israelischen Staatsbürgern in die besetzten Gebiete wie die Westbank und die ebenfalls völkerrechtswidrig besetzten und annektierten Gebiete wie Ost-Jerusalem und die Golan-Höhen zu. Die Strangulierung des Völkerrechts wird an mehreren Stellen des Buches ausführlich behandelt. Makdisi weist zu Recht darauf hin, dass der Konflikt durch die Umsetzung von Völkerrecht einfach zu lösen wäre: Israel müsse sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, seine Siedlerkolonien auflösen, deren Bewohner mitnehmen und die Verweigerung der Menschenrechte sowie der politischen Rechte der Palästinenser beenden. Danach könnten sich beide Staaten völkerrechtlich anerkennen.

Das Osloer-Friedensprozess-Drehbuch diene nur israelischen und US-amerikanischen Interessen. Den Palästinenser weist es nur die Hilfssheriff-Funktion für Israels Sicherheit zu. Der pro-israelische Berater von Bill Clinton und bis vor kurzem auch von dessen Gattin, der derzeitigen US-Außenministerin Hillary Clinton, Dennis Ross, hat die eindeutigen Bestimmungen des Völkerrechts immer als zweitrangig angesehen, wenn nicht sogar als „irrelevant“ abqualifiziert, so der Autor. Der US-Völkerrechtler Richard Falk hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Israelis sich weigern, das Völkerrecht und den wiederholt zum Ausdruck gebrachten Willen der Institutionen der internationalen Staatengemeinschaft zu akzeptieren. Trotz dieser permanenten Völkerrechtsverstöße gewährt die Europäische Union Israel quasi den Status eines Mitgliedsstaates wider alle Prinzipien der Staatengemeinschaft.

Entgegen der Behauptung der Israelis, dass die Lösung des Nahostkonfliktes ungemein kompliziert und Israel ein außergewöhnliches Land sei, vertritt Makdisi die gegenteilige Meinung. Es gehe nicht um Religion, nicht um Sicherheit und nicht um Terrorismus, sondern nur um Land. Das Problem der Zionisten habe von Beginn ihrer Kolonisierung darin bestanden, dass das Land bereits von Nicht-Juden bewohnt ist – 93 Prozent waren in den 1920er-Jahren Araber. Zur Realisierung des zionistischen Projektes hat Vladimir (Ze´ev) Jabotinsky 1923 in seinem Beitrag „The Iron Wall“ die Strategie geliefert. Die „eiserne Mauer“ war als Metapher gedacht und stand für kompromisslose Unterdrückung der Palästinenser, um das Kolonisierungsprojekt zu verwirklichen. „Zionistische Kolonisation, selbst in sehr beschränktem Ausmaß, muss entweder aufgegeben oder gegen den Will der einheimischen Bevölkerung durchgesetzt werden. Diese Kolonisation kann deshalb nur unter dem Schutz einer von der lokalen Bevölkerung unabhängigen Macht fortgesetzt und entwickelt werden – einer eisernen Wand, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann. Das ist in toto unsere Politik gegen die Araber. Es auf irgendeine andere Weise zu formulieren wäre Heuchelei“, so der Stratege es revisionistischen Zionismus, in dessen Tradition u. a. auch Benjamin Netanyahu steht. Zur „eisernen Mauer“ ist seit einigen Jahren eine acht Meter hohe Mauer aus Beton hinzugekommen.

Die schockierenden Ausführungen zeigen, dass die Tragödie der Palästinenser nicht zufällig entstanden ist, sondern durch zielgerichtete Politik verursacht worden ist. Die Vorgänge im besetzten Palästina sind ungeheuerlich. Wer behauptet, der Nahostkonflikt sei so komplex, sitzt politischer Propaganda auf. Der Konflikt ist simpel, was komplex ist, ist die brutale Besatzungsherrschaft. Sie dient dazu, die Existenzgrundlage eines ganzen Volkes zu zerstören, und dies mit massiver Unterstützung des Westens. Die beschriebene Brutalität des israelischen Besatzungsregimes kann nur durch einen persönlichen Augenschein noch getoppt werden. Ein ausgezeichnetes, informatives und aufrüttelndes Buch, das nichts mit den zahlreichen „Märchenbüchern“ zum Nahostkonflikt gemein hat, die den deutschen Buchmarkt überfluten. Ob es zu einem einzigen, demokratischen und säkularen Staat in der Region kommt, wie der Autor hofft, oder am Ende Israel überall ist, wird die Zukunft zeigen.

Donnerstag, 29. Dezember 2011

Einen Palästinenserstaat wird es nicht geben

Das Buch des französischen Anwalts Ziyad Clot macht für alle Nichtexperten in eloquenter Weise deutlich, welche Farce im Nahen Osten vor den Augen der Weltöffentlichkeit dargeboten wird und die sich „Friedensprozess“ nennt. Der Autor ist Franzose; sein Vater Normanne, seine Mutter palästinensische Libanesin, deren Eltern aus Haifa 1948 vertrieben worden sind. Mit 30 Jahren entschloss sich Clot, die Heimat seiner Mutter zu besuchen und seine Rechtskenntnisse in den Dienst der palästinensischen Sache zu stellen. Schon die Abfertigung auf dem Flughafen Roissy gerät für ihn zum Alptraum, weil er einen arabischen Vornamen hat. Die stundenlangen Kontrollen und törichten Befragungen durch Israelis auf französischem Boden sind nicht nur für jeden Franzosen, sondern auch für die stolze Grand Nation unwürdig!

In Palästina angelangt, erlebt er hautnah die israelische völkerrechtswidrige Besatzung mit ihren alltäglichen Demütigungen und Verletzungen der Menschenrechte der Palästinenser. „Nach dem zu urteilen, was ich seit meiner Ankunft gesehen und erlebt habe, scheint die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Palästinenser eher durch das militärisch definierte Vorgehen der Israelis bestimmt zu sein. Israel ignoriert und verletzt seine internationalen Verpflichtungen und diktiert mit dieser extremen Politik zugleich die gesamten Bedingungen des palästinensischen Lebensalltags. Der neue Friedensprozess änderte daran wenig, eher im Gegenteil.“ Auch Clot musste an den Kontrollpunkten (check points) die Demütigungen und Schikanen ertragen, trotz französischen Passes. Seine Absicht in Palästina war, an der Bir-Zeit-Universität Rechtswissenschaft zu lehren. Er bekam aber eine Anstellung bei der „Einheit zur Unterstützung der Verhandlungen“ („Negotiations Support Unit“ oder NSU) der PLO. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel die Flüchtlingsfrage.

Nach einiger Zeit dämmerte es ihm, was für ein Spiel die so genannte Autonomiebehörde in diesem Prozess eigentlich zu spielen hatte. Seit 18 Jahren schleppt sich dieser „Friedensprozess“ nun schon dahin, und den Palästinensern entschwindet immer mehr Land unter ihren Füßen. Das Projekt eines eigenen Staates ist schon lange tot. Nach Meinung des Autors sah die Abbas-Verwaltung in dem Annapolis-Prozess eine letzte Gelegenheit, die sie nicht verpassen durfte. Die PLO wollte bis zum Ende des Jahres 2008 eine Friedensvereinbarung mit Israel erreichen, die von den Palästinensern in einem Referendum gebilligt werden und die baldige Schaffung eines lebensfähigen souveränen Palästinenserstaats auf dem Gebiet von Gaza und Westjordanland ermöglichen sollte. Damit wollte die Autonomiebehörde außerdem die Anerkennung ihrer Legitimität durch ihr eigenes Volk wiedergewinnen. Dabei setzte die PLO, nachdem sie die Herrschaft über den Gaza-Streifen anscheinend auf längere Dauer verloren hatte, alles auf diese eine Karte, schreibt Clot.

Obgleich die verschiedenen israelischen Ministerpräsidenten sich zwar rhetorisch für einen Palästinenserstaat ausgesprochen hatten, erklärte noch keiner, dass er die Gründung eines „unabhängigen und souveränen“ Palästinenserstaats „in den Grenzen von 1967, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt“ unterstützen wolle. Der Autor hat klar erkannt, „dass die Autonomiebehörde im Laufe der Jahre zu einer Behörde der Besatzung geworden war. Sie war mittlerweile darauf reduziert worden, die Drecksarbeit im Westjordanland an Stelle der Israelis zu erledigen, mit Unterstützung der USA und der EU“. Die Autonomiebehörde sei nicht ein einziges Mal in der Lage gewesen, die Schließung einer Kontrollstelle zu erreichen. Es sei eine Autonomiebehörde ohne Autonomie, eine „Authority“ ohne jede Autorität. Für Clot war es unbegreiflich, woher die Palästinenser bei der täglichen unvorstellbaren Gewalt seitens der israelischen Besatzungsmacht die physische und psychische Kraft nach 63 Jahren Unterdrückung und 44 Jahren brutalster Besatzungswillkür hernähmen.

Nach dem Wahlsieg der Hamas bei den ersten demokratischen, freien, gleichen, allgemeinen und geheimen Wahlen in der arabischen Welt verstieß der Westen gegen alle seine Prinzipien. Das palästinensische Volk hatte zur Überraschung aller die falsche Partei gewählt, und dies wurde vom Westen bestraft, indem die Hamas-Regierung boykottiert worden ist. Präsident Abbas wurde seitens Israels und der USA unter Druck gesetzt, die demokratische Regierung ab- und eine dem Westen genehme einzusetzen. Parallel dazu wurden seine Fatah-Kämpfer von den USA militärisch aufgerüstet und mit Hilfe Jordaniens trainiert, um die Hamas militärisch zu besiegen. Für diese Arbeit wurde der Fatah-Warlord Dahlan auserkoren, „der Mann fürs Grobe“. Den Plan dazu hatten nach Meinung des Autors die USA geschmiedet. Sie legten ihn Abbas vor, der einige Anmerkungen anbringen konnte, so dass er zu „seinem Plan“ wurde. Das Endziel des Aktionsplanes liege darin, „einen Sicherheitsapparat zu schaffen, der in der Lage sein würde, einen Palästinensischen Staat in seiner Existenz als friedlicher Nachbar Israels zu stärken und zu schützen“.

Fatah bereitete mit Hilfe der USA einen Staatstreich vor, schreibt Clot. Noch bevor die Fatah in Gaza weitere schwere Waffen erhält, schlägt Hamas zu und besiegt die Abbas-Organisation, deren Kämpfer müssen über Israel ins Westjordanland fliehen; der Fatah-Putsch war gescheitert. Um an den Verhandlungstisch mit Israel zurückzukehren, „hatte Abbas sich zur Kollaboration bei der Liquidierung der Hamas bereit erklärt. Jedem Gedanken einer Einheit seines Volkes zuwider handelnd, hatte er sich dem Plan von George W. Bush angeschlossen.“ Dahlan hielt sich während des Putschversuches seiner Fatah zu einer Knieoperation in Berlin auf!

Aufgrund seines Insiderwissens trug sich Clot Anfang 2008 mit dem Gedanken, um seine Entlassung bei der NSU zu bitten und „dieses Schiff zu verlassen, das dem sicheren Untergang geweiht war: die ´Palestitanic`“. Nur ein Besuch in der Heimatstadt seiner vertriebenen Großeltern, Haifa, bewog ihn zum Bleiben. Beim Besuch des Hauses, das kraft des israelischen Rechts vor 60 Jahren als „Besitz von Abwesenden“ enteignet worden war und jetzt von einer anderen palästinensischen Familie bewohnt wird, übermannten ihn seine Gefühle. „Ich hatte plötzlich eine Gänsehaut. Tränen liefen meine Wangen herunter. Palästina, „mein“ Palästina, das meiner Mutter, war nicht tot, es war nicht an dem Tag, an dem meine Familie geflohen war, gestorben. Es lebte hier immer noch. Israel hin oder her, das Leben war hier nicht stillgestanden.“

Wie der Autor darlegt, verkörpert Abbas in unwürdiger Form die politische Tragödie des palästinensischen Volkes. Am 60. Jahrestag der Nakba, der Vertreibung und Flucht der Palästinenser aus ihrer Heimat, besuchte er weder ein Flüchtlingslager, noch hielt er sich in Palästina auf. Selbst ein Zeitungsbeitrag für drei große internationale Tageszeitungen kam vor lauter Taktieren und Bedenken von Saeb Erekat nicht zustande. Obwohl es keinerlei Annäherung in den Sachfragen gab, musste der Schein aufrechterhalten werden, beide Seiten näherten sich an. „Die PLO, die israelische Regierung, die US-Amerikaner und die EU mussten diese Illusion am Leben erhalten. Auch die EU gab sich durch die Heraufstufung ihrer Beziehungen zu Israel Mitte 2008 der Illusion hin, dadurch größeren Einfluss auf den „Friedensprozess“ ausüben zu können. „Wenn sie sich die Beziehungen zwischen den USA und Israel zum Vorbild nehmen wollten, dann hatte man sich auf einiges gefasst zu machen.“

Wie bereits aus den „Palestine papers“ bekannt, zeigte Israel keinerlei Kompromissbereitschaft. Die ehemalige Außenministerin Tzipi Livni, eine angebliche „Taube“, verhielt sich ebenso politisch unnachgiebig wie alle ihre Vorgänger im Amt, was Kompromisse in Bezug auf die Eigenstaatlichkeit Palästinas in den Grenzen von 1949/1967 betraf. Jede Rückgabe eines annektierten Gebietes müsse durch ein Referendum abgesegnet werden, wie es in einem Gesetz heißt.

Die Beschreibung der so genannten Friedensverhandlungen durch den Autor lässt für ihn nur den Schluss zu: der „Friedensprozess“ war nicht nur 2008/2009 ins Stocken geraten, sondern „er war beendet“. Die Gespräche mit der Olmert-Regierung zeigen, dass die Israelis die palästinensische Seite permanent ins Leere laufen ließen. Alle Gespräche endeten im Nirgendwo. Das „großzügige Angebot“ Olmerts galt nicht den Palästinensern, „sondern den Medien und der israelischen und internationalen Öffentlichkeit“. Die von Olmert vorgebrachten Positionen seien in Wahrheit ohne jede Beziehung zu dem, was am Verhandlungstisch besprochen worden sei, schreibt der Autor. Über das Lavieren der Abbas-PLO stellt Clot fest: „Mehr noch als die Konfrontation mit den Israelis fürchten sie, ihrem eigenen Volk von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. In den palästinensischen Vierteln Jerusalems richtet sich die Kritik in der Tat genauso gegen die Tatenlosigkeit der Autonomiebehörde wie gegen die israelischen Exzesse.“ Die PLO repräsentiere nicht mehr die Ansicht der Mehrheit des palästinensischen Volkes in der Flüchtlingsfrage.

Am Ende seines „Ausfluges“ in die Heimat seiner Mutter wirft Clot desillusioniert das Handtuch und gibt die demütigenden Verhandlungsprotokolle in Form der „Palestine papers“ an die Öffentlichkeit, damit sie von der Farce, die auf der Nahostbühne abgespult wird, Kenntnis nehme. Die Weltöffentlichkeit ist darüber hinweggegangen, keiner der verantwortlichen Politiker der Autonomiebehörde hat politische Verantwortung übernommen. Saeb Erekat hat die Kompromissfähigkeit der Abbas-Behörde laut „Palestine papers“ am treffendsten formuliert: „The only thing I cannot do is convert to Zionism.“ Ähnlich wie bereits in Taba ist man bereit, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge von 1948, Ost Jerusalem als Hauptstadt, die völkerrechtswidrige Besiedelung ihres Heimatlandes, die Grenzen von 1949/1967 das Sicherheitsproblem u. v. a. m. weitgehend zu opfern, um endlich zu einem Staat zu kommen, wie immer dieser auch aussehen mag.

Nach Clot wird es niemals einen Palästinenserstaat geben. Auf lange Sicht wird es zu einer „Ein-Staaten-Lösung“ kommen, aber nicht im Sinne der Befürworter einer solchen, sondern nur in Form von Israel. Die Lektüre ist für Realisten eine Bestätigung, dass es mit der Sache Palästinas katastrophal bestellt ist. Entschädigt wird man durch eine exzellente Übersetzung aus dem Französischen und die Tatsache, dass es neben unzähligen Utopisten noch einige Klarsichtige wie den Autor gibt, der dies in einer verständlichen Sprache dargestellt hat.


Dienstag, 20. Dezember 2011

Ulrich Schäfer, Der Angriff

Als die Terroranschläge am 11. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers zum Einsturz brachten, brachen die USA unverzüglich zu ihrem „war on terrorism“ gegen Afghanistan und Irak auf, jedoch ohne überzeugende politische Strategie. Um es salopp zu formulieren, ging es dem „boy-emperor from Crawford, Texas“ darum, „to kick some ass“. Dass dies keine adäquate politische Gegenstrategie zu den Anschlägen war, zeigt auch das Buch des Ressortleiters des Wirtschaftsteils der „Süddeutsche Zeitung“, Ulrich Schäfer.

Nach Meinung des Autors zielt die eigentliche Absicht Al-Kaidas auf die Wirtschaft des Westens. Die Terroristen haben dem Westen einen „Wirtschaftskrieg“ aufgezwungen, der auf die Vernichtung des Wohlstandes abziele. Folglich müsse der islamistische Terror mit anderen Augen gesehen werden. Die beschwichtigenden Worte der Politiker sowie die Vorurteile der Medien über die Gotteskrieger müssten beiseitegeschoben werden, um den wahren Kern der Bedrohung zu erkennen. Diesen Anspruch will der Autor mit seinem Buch einlösen.

Die Gegenstrategie Schäfers besteht darin, auf die gravierenden Folgen des Terrors für Wirtschaft und Gesellschaft des Westens hinzuweisen und eine Gegenstrategie zu entwerfen, das heißt eine „Wohlstandssicherheitsstrategie“, welche die fragile Wirtschaft vor solchen Angriffen so gut wie möglich schützt. Ob die Anschläge von Al-Kaida-Terroristen oder nicht auch die völlig überzogenen Reaktionen des US-Imperiums für den drohenden Untergang der USA verantwortlich sind, wird vom Autor nur unzureichend thematisiert.

Schäfer versucht nachzuweisen, dass letztendlich Al-Kaida verantwortlich für die gegenwärtige Finanzkrise ist. Obgleich er für seine These, dass das Terrornetzwerk auch auf die Wirtschaft des Westens abzielt, um ihn ausbluten zu lassen, bis er bankrottgeht, Zitate anführt, würde diese These einem Freispruch für die zum Teil dubiosen Machenschaften gewissenloser Bankiers, Finanzjongleuren und Spekulanten bedeuten. Ebenso sind es nicht die Kosten für die zusätzliche Sicherheit, die der Westen aufbringen muss, sondern die horrenden Ausgaben für die zahllosen Kriege, die das US-Imperium und die Länder des Westens meinen führen zu müssen. So kostet der Afghanistankrieg die USA über sieben Milliarden US-Dollar pro Monat. Die USA werden letztendlich an ihrem Größenwahn und auch ihren Schulden zugrundegehen. Wie sagte es doch der ehemalige US-Finanz- und Außenminister unter George H. W. Bush dem Älteren, James Baker: „Wir sind bankrott, wirklich bankrott. Unsere größte Herausforderung ist die Schuldenzeitbombe.“

Der Autor stellt zu Recht fest, dass die Kriege des US-Imperiums nur vordergründig um die Entmachtung einiger Diktatoren geführt werden, sondern der Westen führe die Kriege in erster Linie „um Öl und Gas“. Also nicht um Freiheit, Demokratie und Gender Mainstreaming, wie die neokonservativen Bush-Krieger noch vor dem Überfall auf den Irak tönten. Das ernüchternde Resultat nach acht Jahren Krieg und Verwüstung in Irak: eine sunnitische Diktatur wurde durch eine schitische ersetzt zum alleinigen Nutzen Irans! Die Investitionen des US-Imperiums wurden also in den arabischen Treibsand gesetzt. All dies bleibt bei Schäfer völlig unterbelichtet. Eine maßlose Verschuldungspolitik der USA ist also die primäre Ursache der Finanzkrise, bewirkt durch eine irrationale politische Kriegsstrategie.

Nach Meinung des Autors ist der Westen den Al-Kaida-Terroristen in die Falle gegangen. Er zeigt, wie durch einen relativ geringen finanziellen „Aufwand“ seitens der Terroristen, enorme Folgekosten für die Sicherheit aufgewendet werden müssen. Es handele sich bei den Al-Kaida-Strategen nicht um „religiöse Wirrköpfe“ oder „Fanantiker“, die wahllos bombten. Von diesem Zerrbild müsse der Westen sich verabschieden, um zu den wirklichen Absichten Al-Kaidas vorstoßen zu können. Die erzeugte „Strategie der Angst“ sowie eine Politik der „strategischen Überdehnung“ könnten letztendlich zum Kollaps des US-Imperiums führen.

Um zu den sieben Punkten seiner „Wohlstandssicherheitsstrategie“ zu kommen, hätte es nicht dieser ausschweifenden und in Teilen redundanten Ausführungen bedurft. So müsse der Westen die Entwicklung der islamischen Welt, die Globalisierung, die Warenströme, die Energieversorgung, die Staatsfinanzen, die Finanzmärkte sowie die Computernetze sichern, um langfristig seinen Wohlstand erhalten zu können. Erwähnt wurde nicht, dass der Westen sich von seiner Hybris, Islamphobie und seinen Obsessionen gegenüber anderen Völkern und Kulturen befreien muss, die ihn auf den militärpolitischen Irrweg geführt haben. Die wirtschaftliche Stoßrichtung des Al-Kaida-Terrornetzwerkes hätte auch kürzer und mit weniger Alarmismus vorgetragen werden können.

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Saudi Arabia: the "good" tyranny

The Western political class is obsessed with Iran and its virtual nuclear programs. But just next door, there exists the highly fundamentalist and brutal regime of the House of Saud. It does not only support almost all radical Islamist movements around the world but has also established a form of intolerant dictatorship the world has never seen before. At the same time, the Saudi regime is very well befriended with the U. S. Empire. These Saudi extremist can behave like madmen internally, but the U. S. government will look the other way. This telling silence is paid for in the currency of oil.

Why does the Obama administration keep mum over death sentences routinely executed by the Saudi regime? Is it because the U. S. also imposes death sentences on a regular basis or Saudi Arabia is considered a good friend or indispensible ally? The latest incidents happened just on December 12, 2011. A woman by the name of Amina bint Abdul Halim bin Salem Nasser was beheaded for allegedly practising “witchcraft and sorcery” that does not constitute a crime in the Saudi tyranny. No details concerning the exact charges were given.

According to amnesty international, 73 persons were sentenced to death in Saudi Arabia this year. Such trumped up charges like “sorcery” is often used as a pretext to punish people because they exercise their right of freedom of speech, practise another religion or just demonstrate against Saudi despotism.

The House of Saud and the “House of Bush” are best friends. The relationship between the U. S. elite and the Saudi regime is “ironclad”. That is why the U. S. does not express public criticism of Saudi Arabia´s dismal human rights record, the discrimination of women, disregard of people of another religion and so on. The U. S. also kept silent when the Saudi policemen were “invited “by Bahrain and crushed the protest movement against the despotic Sunni minority regime of the house of al-Khalifa. This despotic regime is also backed by the West which makes them “good despots”. They are therefore allowed to use any means to “keep their house in order”. Their “sovereignty” is respected by the West.

In his book “Quicksand. America´s Pursuit of Power in the Middle East”, Geoffrey Wawro, professor for Military History and director of the Military History Center at the University of North Texas, describes U. S. entanglement in the Middle East, solely motivated by the thirst for oil. The author holds that the successive US administrations pursue doctrines that do not match with the reality of the region. Wawro writes that America´s recent efforts to transform the Middle East have gone shockingly sour. He proffers another important argument why the U. S. Saudi relationship went astray: “The birth of Israel and the discovery of vast pools of oil in Saudi Arabia in the 1930s focused American attention on the Middle East as never before, and wove the Middle East into US domestic politics. American strategy in the Middle East has been muddled and confused over the years because it has been addressed politically, not strategically.”

For a foreign observer, the main problem of the policy of the U. S. Empire is its practice of double standards. It seems that all the “good guys” as they are seen by the U. S. administrations can violate democratic norms for which the “bad guys” like Iraq, Afghanistan, and Libya are severely punished. The next candidates on the U. S. “hit list” are Syria and Iran. But the real problem for America`s credibility is the policy of Israel that violates all norms of international law and human rights. U. S. acceptance of that policy even gets the U. S. government to ignore the Saudi peace plan which envisages full diplomatic relationships and recognition of the State of Israel by all Arab countries.

All the indications emanating from Obama´s policy show that his administration is too weak to make a U-turn in America`s Middle Eastern policy concerning Saudi Arabia and Israel. If the US won´t learn quickly, quicksand may turn into quagmire.

First published here and here.

Sonntag, 11. Dezember 2011

In memoriam Frantz Fanon

Vor 50 Jahren, am 6. Dezember 1961, starb Frantz Fanon. Post mortem erschien „Die Verdammten dieser Erde“. Neben „Black Skin, White Masks“ gehörte es zu denjenigen Schriften, die die antikolonialen Befreiungsbewegungen nicht nur in der „Dritten Welt“, sondern auch in den westlichen Metropolen inspirierten. In „Black Skin, White Masks“ analysiert er die traumatischen Folgen des Minderwertigkeitskomplexes der Menschen in den Kolonien und wie dieser zur Identifikation mit der Ideologie der Kolonialisten führt. Dass erneute Lesen seiner Werke, erscheint für den Leser wie ein déjà-vu.

Im Lichte der neuen US-amerikanisch geführten Politik des Neo-Kolonialismus und Imperialismus ist Fanon aktueller denn je. Beide Bücher können jedoch nicht als Blaupause für den Widerstand gegen westliche Hybris herhalten, da, wie Fanon schreibt, jede Generation ihre eigenen Schlüsse aus einer konkreten politischen Situation ziehen müsse. In der Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion hat sich die US-„Hypermacht“ auf neue koloniale Abenteuer eingelassen. Ein muslimisches Land nach dem anderen wird überfallen, oder es wird durch einen nicht-erklärten Drohnenkrieg – gesteuert aus dem CIA-Hauptquartier oder von Militärstützpunkten in Nevada – attackiert. Jüngstes Beispiel dieser US-Aggression ist Iran, dessen Führung man unterstellt, mit dem Bau von Nuklearwaffen beschäftigt zu sein, obgleich sie dies immer als „unislamisch“ zurückgewiesen hat und bis dato kein einziger glaubhafter Beweis für einen solchen Bau vorgelegt worden ist. Trotzdem sieht sich das Land zahlreicher obskurer Attacken ausgesetzt, wie das jüngste Einfangen einer US-Spionagedrohne über Iran zeigt.

Der auf der Karibik-Insel Martinique Geborene gilt als radikaler Humanist und als ein Vertreter absoluter Gleichberechtigung. Jeder Mensch habe das gleiche Recht, an der gemeinsamen Welt mitzuarbeiten. Den Status-quo als definitiv anzuerkennen, lehnte Fanon ab. Er schuf das „revolutionäre Subjekt“, das als Gegenentwurf zur „strukturellen Gewalt“ der Kolonialisten auftreten sollte. Sie verweigerten den Kolonisierten die Aufnahme als gleichwertige und gleichberechtigte Bürger in deren heile weiße Welt. Fanon entwickelte seine Theorien nicht für seine Heimat Martinique sondern für Algerien, das unter französischem Kolonialjoch zu leiden hatte.

Mit 27 Jahren schrieb er „Black Skin, White Masks“, das 1952 veröffentlicht worden ist. Erst nach seinem Tod und durch die Übersetzung ins Englische wurde es 1967 weltweit bekannt und avancierte zur „Bibel“ der Studentenbewegung. Das Buch inspirierte all diejenigen, welche sich für die “Idee eines schwarzen Bewusstseins“ einsetzten wie z. B. Martin Luther King, der ein Jahr später ermordet worden ist. Fanons Entrüstung richtet sich nicht nur gegen „den schwarzen Mann, der seine Rasse weiß machen will”, sondern auch gegen das Image eines idealisierten „Negros“, der eine Erfindung der Weißen ist. Fanon benutzt den Begriff „weiß“ als exemplarisch für die „europäische Zivilisation und deren Repräsentanten“ und „schwarz“ für alles nicht-westliche im Allgemeinen.

Fanons Werke können heute als ein Leitfaden gegen den Termidor (Periode der Reaktion, die auf eine Revolution folgt) gelesen werden, der ein Land nach dem anderen, sei es in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten zurückerobert entweder durch die direkte Intervention westlicher Mächte oder durch indigene Proxys, die gegen die Interessen ihrer Völker handeln. Im Sinne von Fanon wird die Souveränität der „schwarzen“ (nicht-westlichen) Völker wiederum missachtet. Ihn als einen Befürworter von Gewalt zu bezeichnen, missinterpretiert sein Werk. Fanon hat auch niemals behauptet, dass Formen antikolonialer Revolution eins zu eins auf den Westen übertragbar seien. Dass seine Aussagen zur Anwendung brutaler Gewalt missbraucht worden sind, scheint eher der Romantik seiner irregeleiteten „Jünger“ geschuldet zu sein. Fanon war seiner Zeit weit voraus, weil er sich dafür aussprach, dass jede Gesellschaft ihre Unterschiede frei leben solle. Dies ist ein Grund, warum er von vielen bewusst missverstanden und abgelehnt wird.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Der vergessene Nahostkonflikt

Die Arabische Welt kommt nicht zur Ruhe. Und es zeigt sich immer wieder, dass selbst in diesen demokratischen Erhebungen gegen die seit Dekaden herrschenden Autokraten und Diktatoren immer wieder der Nahostkonflikt um das historische Palästina aufscheint. In der Arabellion geht es auch um den vergessenen Nahostkonflikt. Um die an diesem Konflikt beteiligten Akteure kreist das Buch des Journalisten und Nahostkorrespondenten der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Markus Bickel, der seit 2005 aus Libanon berichtet.

„Die Arabische Revolution klopft an Israels Tür“, kommentierte die israelische Tageszeitung „Haaretz“ die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge über die syrisch-israelische Grenze in den von Israel 1981 annektierten Golan. Mag der syrische Präsident Asad diese „spontane“ Rückkehr mit Wohlwollen betrachtet haben, so zeigt diese jedoch, dass das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge neben der Gründung eines Palästinenserstaats das Herzstück des Nahostkonflikts bildet.

Im Kapitel „Arabiens Stunde null“ legt der Autor bereits den Finger in die Wunde westlicher Nahostpolitik. Eine an Stabilität statt Demokratie, Realpolitik statt rechtsstaatlicher Prinzipien ausgerichteten Politik sei der Stützpfeiler amerikanischer und europäischer Politik gewesen, bevor sie durch den „arabischen Frühling“ ihre Basis verloren haben. Auch Israel habe sich bequem eingerichtet mit den autoritären Regimen in seiner Nachbarschaft. Bis zuletzt hielt Israel an Mubarak fest. Auch das Asad-Regime war Garant für Stabilität; seit 40 Jahren war kein Schuss mehr zwischen beiden Staaten gefallen.

In den weiteren Kapiteln befasst sich Markus Bickel mit dem schiitischen Halbmond, der Rolle Syriens in Libanon und dessen Verwicklungen in das Attentat auf Rafik Hariri, den ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten. Weitere Akteure wie der Hisbollah und die Hamas werden behandelt. Auch die deutsche Rolle bei den Vermittlungen zwischen Israel und dem Hisbollah beim Austausch von entführten Israelis gegen libanesische Gefangene in Israel oder bei der versuchten Aufklärung des Mordes an Hariri durch den deutschen Staatsanwalt Detlev Mehlis kommt zur Sprache.

Wie undurchdringlich das komplexe Gestrüpp aus internationalen, politischen, persönlichen, familiären, kulturellen und ökonomischen Beziehungen in dieser Region und hier insbesondere in Libanon ist, zeigt die „Aufklärung“ des Attentats auf Hariri. Deutete zu Beginn alles auf Syrien und den Hisbollah hin, so scheint eine Aufklärung heute weniger wahrscheinlich als im Jahr 2005, als die Vereinten Nationen erstmalig ein Sondertribunal zur Aufklärung einer „terroristischen Straftat“ an einer Person eingerichtet haben.

Die Beschreibung der Komplexität dieser Region wäre noch überzeugender gelungen, wäre auf die Rolle Israels etwas mehr Kritik verwandt worden. Israels massive Zerstörungen 2006 im Libanon oder 2008/09 im Gaza-Streifen werden nur en passant erwähnt. Die Leserschaft erhält tiefe Einblicke in Gesellschaften und deren politische Vorstellungen, denen man im Lichte einer islamkritischen Öffentlichkeit im Westen sehr skeptisch gegenübersteht. In dieser nuancenreichen Darstellung liegt der Wert dieses Buches.

Zuerst erschienen hier.

Guttenbergs Comeback: "Vorerst gescheitert"

„Oh yes, I´m a great pretender.“ Dieses „fünfte“ Kapitel fehlt leider in der Plauderei zwischen Karl-Theodor zu Guttenberg und dem Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Giovanni di Lorenzo. Ganz unverhohlen stellt der „Distinguished Statesman“(!), wie er prätentiös in den USA genannt wird, seine Rückkehr in die deutsche Politik in Aussicht. „Vorerst“ suggeriert, dass das erfolgreiche Ende noch aussteht. Kehrt zu Guttenberg vielleicht als „frisch“ promovierter „US-Trojaner“ in die deutsche Politik zurück?

Es scheint, als habe zu Guttenberg eines in den USA gelernt: Größenwahn und Hybris gleich dem US-Imperium. Der Freiherr lässt die politische Klasse wissen, was er von ihr hält: wenig bis nichts. Seine früheren Kollegen/innen hält er sogar für ahnungslos. Auch der CSU schreibt er einige Nettigkeiten ins Stammbuch. Ein Comeback dort dürften die Söders zu verhindern wissen.

Bis zur Ermüdung (30 Seiten) ergeht sich zu Guttenberg in der Rechtfertigung seiner plagiierten Dissertation. Er habe eine „beschissene“ Doktorarbeit abgeliefert, die von einem der renommiertesten Staatsrechtler Deutschlands trotzdem mit der Höchstnote bewertet worden ist. Eine Promotion auf redliche Art und Weise zu erwerben, war bei der Mehrfachbelastung einfach nicht drin! Falls die chaotische Arbeitsweise – er will an „mindestens 80“ Datenträgern gearbeitet haben - tatsächlich zutreffen sollte, darf ihm niemals wieder ein öffentliches Amt übertragen werden. Was der Freiherr perfekt beherrscht, ist die Selbstinszenierung. Davon zeugt dieses Geplauder und dessen Timing sowie das Interview in Afghanistan mit Johannes B. Kerner und seiner „First Lady“ in spe.

Für einen „Distinguished Statesman“ dürfte es ein Leichtes sein, eine neue Partei zu gründen. Das Potenzial liegt quasi in Form von über 30 Prozent Nichtwählern auf der Straße. Da alle Parteien sowieso orientierungslos seien, ist es höchste Zeit, dass zu Guttenberg endlich wieder die Richtung in der deutschen Politik vorgibt. Er könnte sich aber auch der FDP anschließen, die ebenfalls händeringend nach Themen und Führungspersönlichkeiten sucht. Als „Distinguished Statesman“ dürfte diese Klientelpartei ihm wie auf den Leib geschneidert sein. Übrigens: Der „Oxford Advanced Learner´s Dictionary“ definiert „distinguished“ wie folgt: „very succesful and admired by other people“ oder „having an appearance that makes somebody look important or that makes people admire or respect them“.

Für den distinguierten und jetzt brillenlosen zu Guttenberg treffen beide Umschreibungen zu. Wenn sich nun noch „Die Welt“ und „Bild-Zeitung“ seiner annehmen, müsste es mit dem Comeback klappen. Es ist dem „Distinguished Statesman“ zu wünschen, dass dies seine potenziellen Wähler/innen ebenfalls so sehen und sein „Scheitern“ und die „inszenierte“ Treibjagd der medialen Klasse anlasten. „Die Zeit“ jedenfalls hat zum Guttenberg-Relaunch das Ihre beigetragen. Hatte nicht ihr Chefredakteur auf dem Höhepunkt der Plagiatsaffäre sich dafür ausgesprochen, dass zu Guttenbergs sein Amt behalten solle?

Mit dieser Plauderei in Form eines endlosen Interviews war kein „mea culpa“ beabsichtigt, sondern es geht um Vorwärtsverteidigung. Das bewusste vergrätzen der gesamten politischen Klasse zielt darauf ab, durch ein Plebiszit wieder an die Macht zu kommen. Die deutschen Wahlbürger/innen sollten in der „Causa Guttenberg“ Folgendes bedenken: Fool me once, shame on you, fool me twice, shame on me!

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Dienstag, 29. November 2011

Der Taliban-Komplex

Als von zehn Jahres auf dem Bonner Petersberg die erste Afghanistan-Konferenz stattfand, waren die Veranstalter mit ihren handverlesenen afghanischen „Partnern“ noch voller Euphorie, was die demokratische Zukunft des Landes betraf. Nachdem die USA die Regierung der Taliban und ihrem „Islamischen Emirat Afghanistan“ nach einigen Wochen Dauerbombardement samt Al-Qaida-Terroristen ein Ende bereitet hatten, schickte sich der Westen an, ein neues Protektorat zu errichten, in dem Frieden, Demokratie, die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Frauenrechte garantiert sein sollten.

Wenn man sich in illusterer Runde nach zehn Jahren am 5. Dezember 2011 wieder an altbekanntem Ort auf dem Petersberg zum Stelldichein trifft, dürfte auch dem letzten Teilnehmer klar sein, dass nichts von den proklamierten Zielen auch nur im Entferntesten erreicht worden ist. Die westlichen Besatzungstruppen samt ihrem Söldnerheer und den Tausenden von NGO-Mitarbeitern sollten ihr Scheitern eingestehen. Weder wird am Hindukusch die Freiheit Deutschlands verteidigt, noch das Westminister-Modell einer Demokratie eingeführt. Milliarden von US-Dollar und Euros haben sich in den Bergen und Tälern Afghanistans regelrecht verflüchtigt. Auf dieser zweiten Petersberger-Konferenz kann es nur um einen schnellen Abzug des Westens gehen, wenn dieser auch noch „in Würde“ zu bewerkstelligen ist, umso besser für die Psychohygiene des Westens.

Nach zehn Jahren Krieg sind die Taliban überall. „Taliban“ ist zu einer Chiffre für Widerstand gegen die westliche Besatzung geworden. Folglich sind alle diejenigen Afghanen „Taliban“, die nicht von dem Besatzungsregime profitieren. Diese Tatsache wird immer noch nicht von den westlichen Medien wahrgenommen. Sie hantieren mit Begriffen, die der Asservatenkammer der politischen Propaganda entstammen. „Gotteskrieger“, „fanatische“ und „archaische Krieger“, die das Land ins Mittelalter zurückführen wollen. Jede Gräueltat sei ihnen Recht, die zur Errichtung ihres „Gottesstaates“ führe. In der Wirklichkeit sind es die westlichen Besatzungstruppen und das von ihnen ausgehaltene Söldnerheer, die neben den Widerstandskämpfern überwiegend Zivilisten töten. Als besonders verwerflich gilt in den Augen der Menschen der Drohnenkrieg des US-Friedensnobelpreisträgers Barack Obama.

Der Westen scheint nicht mehr genau zu wissen, gegen wen oder um was er eigentlich kämpft. Das vorliegende Buch von Conrad Schetter, Privatdozent am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, und Jörgen Klußmann, Studienleiter der Evangelischen Akademie im Rheinland, hat Autoren/innen versammelt, die eine realistische Bestandsaufnahme des Taliban-Komplexes vorgelegt haben. Den Mitgliedern der Afghanistan-Konferenz kann es nur empfohlen werden.

Für die westlichen Besatzungstruppen waren die Taliban der Inbegriff der Intoleranz, sie verachteten alle Werte, für die der Westen steht. Die Kenntnisse über die „Neo-Taliban“ und ihren national-islamischen Politikansatz haben sich noch nicht im Denken der westlichen Militärs durchsetzen können. Zu diffus ist das Netzwerk, das mit „Taliban“ nur sehr unzureichend beschrieben wird.

Auf drei Themenfelder konzentrieren sich die Buchbeiträge: Wer sind die Taliban? Die Rolle der Taliban sowie der militärische Einsatz. Die Autoren/innen trauen der Nato nicht zu, das Blatt militärisch noch wenden zu können. Obgleich haushoch überlegen, steigt die Zahl gefallener Soldaten, von den zivilen Toten gar nicht zu sprechen. Deren Zahl steigt permanent, was die sowieso geringe Legitimität der Karzai-Regierung weiter untergräbt. Obgleich die westlichen Truppen viele Taliban-Kämpfer töten, scheint deren Zahl weiter zuzunehmen; Schätzungen bewegen sich um die 35 000 Kämpfer. Über deren Motive, Motivation bzw. Ideologie gehen die Meinungen auseinander, wie der Beitrag über die ideologischen Facetten der Taliban zeigt.

In ihrer nüchternen Analyse konstatieren die Autoren/innen, dass die Taliban auf allen Gebieten professioneller geworden sind, insbesondere in der Anwendung neuster Kommunikationstechnologien. Die Grenzen Afghanistans sind umstritten, die Kriegsfürsten haben die Herrschaft über Afghanistan unter sich aufgeteilt, und im Grenzgebiet herrscht eine Auseinandersetzung zwischen Stamm und Staat, schreibt Conrad Schetter. Zahlreiche Konfliktfelder überlagern sich in Afghanistan. Da ist die Rolle Pakistans, Indiens, Irans und anderer Akteure. Ein undurchsichtiges Netzwerk von Kriegsfürsten teilt sich das Drogengeschäft; sie alle verfolgen ihre eigene Agenda. Schetter und Klußmann befürchten, dass der US-Drohnenkrieg einen Vorgeschmack auf die Kriege der Zukunft gibt und dazu führen könnte, dass weiteren Gesellschaften eine „Talibanisierung“ drohen könnte.

Die Aussichten für den Westen sind in Afghanistan nicht rosig. Ökonomisch lässt sich das Abenteuer keine weiteren zehn Jahre durchhalten. Allein die USA zahlen pro Monat in Afghanistan sieben Milliarden US-Dollar. Ohne eine Einbeziehung der „Taliban“ in Verhandlungen, die zum vollständigen Abzug der Nato-Truppen führen müssen, wird es kein Ende des Konfliktes geben. Wie sagen die Taliban: „Der Westen hat die Uhren, wir haben die Zeit.“ Was aus der afghanischen „Zivilgesellschaft“ wird, bleibt unklar. Sie ist noch zu schwach entwickelt, als dass Teile dieser neuen politischen Elite das Karzai-Regime ersetzen könnten.

Das Buch liefert eine sehr differenzierte, nüchterne und realistische Bestandsaufnahme des westlichen Afghanistan-Abenteuers. Einen Königsweg aus der Schlamassel bietet es nicht. Was es jedoch deutlich macht, ist das Ende westlicher Träumereien von Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte für die Völker Afghanistans. Der "Patient Afghanistan" ist im Verlauf der Operation gestorben. Darüber sollte auch auf der bevorstehenden Afghanistan-Konferenz in Bonn gesprochen werden. Das Buch hebt sich wohltuend von den in den Medien verbreiteten Klischees über das Land und dessen Bewohner ab.

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Montag, 28. November 2011

AI-Bericht: Troubled Waters - Wassernöte

Der Zugang zu angemessenem und sauberem Wasser ist ein Menschenrecht. Dieses Recht wird den Palästinensern in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten (OPT=Occupied Palestinian Territories) durch diskriminierende Maßnahmen seitens der Besatzungsmacht verwehrt. Der Zugang zu Wasserressourcen für Palästinenser in den OPT wird von Israel kontrolliert und auf ein Maß beschränkt, das weder deren Bedürfnisse zu decken vermag, noch einen fairen und gleichberechtigten Anteil an den gemeinsamen Wasservorkommen darstellt.

Den Palästinensern stehen rund 70 Liter Wasser pro Kopf am Tag zur Verfügung, einem Israeli dagegen etwa 300 Liter. Zirka 200 000 Palästinenser in den ländlichen Gemeinden der Westbank haben keinen Zugang zu fließendem Wasser. Einigen stehen nur 20 Liter pro Tag zur Verfügung. Selbst in denjenigen Städten oder Dörfern, die an das Wassernetz angeschlossen sind, bleiben die Wasserhähne oft trocken – manchmal über Wochen oder sogar Monate.

Die Ungleichbehandlung beim Zugang zu Wasser zwischen Israelis und Palästinensern ist eklatant. Israel verbraucht rund 80 Prozent der Wasservorräte des Berg-Aquifers, der einzigen Grundwasserquelle in der Westbank, dazu noch das gesamte verfügbare Oberflächenwasser des Jordanflusses, von dem den Palästinensern überhaupt nichts zugestanden wird.

Im Gaza-Streifen herrscht gravierende Wassernot. Darüber hinaus sind 90 – 95 Prozent des Wassers verschmutz, weil durch Überverbrauch Abwasser und Meerwasser in die Grundwasserschichten einsickern. Für den menschlichen Genuss ist dieses Abwasser nicht mehr geeignet, wie die häufig auftretenden Krankheiten zeigen. Über Jahrzehnte hat die israelische Besatzungsmacht die Wasserressourcen einseitig für die Kolonisierung des Gaza-Streifens durch zirka 8 000 Siedler ausgebeutet. In einem Gebiet, in dem permanente Wasserknappheit herrscht, leisteten sich die Kolonisatoren extrem wasserintensive Bananenplantagen.

Im Gegensatz zu den Palästinensern „ertrinken“ die völkerrechtswidrigen Siedlerkolonien geradezu in Wasser. Dies zeigt der AI-Bericht überdeutlich. Wie es scheint, gibt es genug Wasser in der Region. Die Israelis benutzen es jedoch wider Völkerrecht und den Menschenrechten als politisches Druckmittel, um die Palästinenser auch auf diesem Gebiet zu zeigen, wer Herr und wer Knecht ist.

Der AI-Report stellt unmissverständlich fest, dass die israelische Vorgehensweise einen „Verstoß gegen die israelischen Verpflichtungen aus den internationalen Menschenrechtsabkommen und dem Humanitären Völkerrecht“ darstellt. Die Oslo-Verträge, die den so genannten Friedensprozess ausgelöst haben, wirken sich auch auf dem Gebiet der Wasserverwaltung verheerend für die Palästinenser aus. Wie auf allen anderen „ausgehandelten“ Politikfeldern auch, liegt die Letztentscheidung über die Wasserkontrolle allein bei Israel. Dieser Bericht informiert und dokumentiert diese Farce und die permanenten Völkerrechtsverstöße Israels auf beeindruckende Weise.

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Sonntag, 27. November 2011

AI-Bericht: Operation Gegossenes Blei

Am 27. Dezember 2008 begann die israelische Armee unter dem Codenamen „Gegossenes Blei“ ein vernichtendes Bombardement des Gaza-Streifens. Anlass für diese kriegerische Aggression war der Beschuss Südisraels mit Kassam-Raketen. Hamas, die seit dem gescheiterten Putsch des Fatah-Warlords Mohammed Dahlan von 2007 den Strip regiert, hatte den Beschuss erst wieder aufgenommen, als Israel Anfang November 2008 vier Hamas-Mitglieder getötet hatte.

Das israelische Außenministerium selbst hat in einer Dokumentation mit dem Titel „The Hamas terror war against Israel“ gezeigt, wie vertragstreu sich Hamas verhalten hat. Es präsentierte zwei Schaubilder, die das „Intelligence and Terrorism Information Center at the Israel Intelligence Heritage & Commemoration Center“ erstellt hat. Sie belegen, dass Hamas erst wieder mit dem Beschuss israelischen Territoriums begann, als Israel vier ihrer Mitglieder getötet hatte.


Raketeneinschläge pro Monat.

Mörsergranateneinschläge pro Monat.


Diese Schaubilder wurden in der Nacht zum 4. Januar 2009 von der Website des Außenministeriums entfernt und durch folgendes Schaubild ersetzt, das man als verwirrend bezeichnen könnte. Dieses Dokument trug den gleichen Titel wie das ursprüngliche: „The Hamas terror war against Israel“.


Als am 18. Januar 2009 - zwei Tage vor der Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama - ein Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel vereinbart worden war, waren 1 400 Palästinenser tot, die überweigende Anzahl Zivilisten, darunter 300 Kinder. 14 israelische Soldaten - vier davon durch „friendly fire“ - kamen bei diesem Massaker der israelischen Armee ums Leben.

„Viele der Zerstörungen wurden mutwillig durchgeführt und resultierten aus gezielten Anschlägen auf zivile Objekte sowie wahllosen Angriffen, die nicht zwischen militärisch legitimierten Zielen und zivilen Objekten unterschieden. Solche Angriffe verletzten fundamentale Bestimmungen der internationalen Menschenrechte, vor allem das Verbot von Direktangriffen auf Zivilisten und zivile Objekte, das Verbot wahlloser oder unverhältnismäßiger Angriffe und das Verbot von Kollektivstrafen“, so der AI-Bericht.

Bei dieser Aggression wurde weißer Phosphor, eine hochbrennbare Substanz, wiederholt wahllos über dicht besiedeltem Gebiet abgefeuert. Neben den vielen Toten machte das israelische Militär auch vor der totalen Zerstörung der Infrastruktur nicht halt. Tausende Wohnungen, Geschäfte, Betriebe und öffentliche Gebäude wurden willkürlich zerstört, „ganze Nachbarschaften dem Erdboden gleich gemacht und Vieh getötet“. AI kommt zu dem Ergebnis, dass die Zerstörungen „absichtlich und gezielt“ erfolgten, militärisch nicht „notwendig“ oder „begründet“ waren. Sie seinen das Ergebnis „rücksichtsloser und wahlloser Angriffe“ gewesen.

Neben dem AI-Bericht erstellte Human Rights Watch sowie der UN-Menschenrechtsrat unter Leitung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone Untersuchungsberichte, die alle zu ähnlichen Ergebnissen wie Amnesty International kamen. Das AI-Dokument zeigt das ganze Grauen, das das israelische Militär über die Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens gebracht hat. Alle drei Berichte könnten als Grundlage für eine Anklage der Verantwortlichen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag dienen.

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Samstag, 26. November 2011

Amnesty International Report 2011

Die jährlichen Berichte von Amnesty International (ai) zur weltweiten Lage der Menschenrechte sind bereits Tradition. Sie machen deutlich, dass es mit der Achtung der Menschenrechte nicht zum Besten steht. AI tritt überall auf der Welt gegen Unrecht ein. Wie der vorliegende Report für das Jahr 2010 zeigt, besteht dazu auch aller Anlass.

AI hat in seiner 50-jährigen Geschichte immer auch auf die Rolle der Medien bei der Veröffentlichung von Menschenrechtsverletzungen gesetzt. Insbesondere die neuen Medien wie Internet, Twitter oder SMS machen den Despoten, Autokraten, Diktatoren und autoritären Regimen das Leben schwer. Ihnen gelingt es immer seltener, ihre Länder vom Informationsfluss abzuschotten. In Echtzeit werden Verbrechen gegen die Menschenrechte um die ganze Welt geschickt. Hinzu kommt, dass es mit der Plattform „Wikileaks“ einen Whistleblower (Informant) gibt, die auf Missstände hinweist und einen weltweiten „Abladeplatz“ für nicht zur Veröffentlichung bestimmte Regierungsdokumente geschaffen hat. Den Zorn der USA haben ein Video erregt, das die willkürliche Tötung von unbewaffneten, wehrlosen irakischen Zivilisten durch einen Apache-Kampfhubschrauber zeigt, sowie die Fülle an US-Dokumenten, welche die dubiosen Machenschaften der USA in Afghanistan und Irak offengelegt haben.

Ohne den mutigen Einsatz von einzelnen Menschen in Ländern, in denen oft ein Menschenleben „wenig“ zählt, sähe es um die Achtung der Menschenrechte noch schlechter aus. AI unterstützt gerade auch diese Aktivisten/innen, indem sie auf deren prekäre Lage hinweist, was diesen wiederum einen gewissen Schutz vor totaler Repression des jeweiligen Regimes gibt.

Ein besonderes Augenmerk des AI-Berichtes liegt u. a. auf den Menschenrechtsverstößen in demokratischen Staaten. Hier sind vor allem die USA, die selbsternannte „shining city upon the hill“, zu nennen, deren Menschenrechtsbilanz seit 9/11 recht düster aussieht. Nicht nur in den Ländern Afghanistan (Bagram), Irak (Abu Ghreib) und Guantanamo Bay, Kuba, begehen die USA massive Menschenrechtsverletzungen, sondern auch in den USA selbst, wenn man sich den Umgang mit Migranten/innen, die Antiterrormaßnahmen, die Todesstrafe und die bis zum Bersten überfüllten Haftanstalten vor Augen führt.

Neben dem globalen Überblick über die Menschenrechtslage in Afrika, Amerika, Asien und Pazifik, Europa und Zentralasien sowie dem Nahen Osten und Nordafrika findet man Analysen zur Lage der Menschenrechte in 157 Ländern. Im Anhang findet sich eine Chronik über 50 Jahre AI, die Adressen der deutschsprachigen Sektionen sowie den Ratifikations- und Zeichnungsstand ausgewählter internationaler Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte.

Allein in Deutschland gibt es über 110 000 freiwillige AI-Helfer/innen. Zum 50. Geburtstag wurde AI allseits gelobt, es gab neben der Würdigung durch den Bundespräsidenten auch eine Sondermarke. Das Movens der Unterstützer und Helfer ist jedoch die immer noch schwierige Lage vieler Menschen, deren Situation sich trotz zahlreicher internationaler Pakte und Deklarationen nicht zum Besseren gewandelt hat. AI ist deshalb nötiger denn je.

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Donnerstag, 24. November 2011

Azoulay´s From Palestine to Israel

The present photobook uses a new approach to the explanation of the Palestine/Israel conflict. By reading over more than 200 photographs, Ariella Azoulay recounts the four crucial years that determine the history of this conflict till today. She analyses the photos as historical documents and presents them in a way to write and interpret history anew. With this presentation she created a civil archive “which makes it possible to view the catastrophe they recorded”. (7) Years of research made it clear “that the occupation is part of the Israeli political regime, and that reconstructing its schema should start in 1948”. (17) Indirectly, this statement repudiates the argument put forward by the Zionist left that Israel went wrong after it occupied the rest of Palestine in the June war of 1967. This photobook proves through pictures that the cause of the conflict is based on the forceful expulsion of the indigenous owners of the Land of Palestine by the Zionist forces.

Ariella Azoulay teaches political philosophy and visual studies. She directs the Photo-Lexic project at the Minerva Humanities Centre at Tel Aviv University. She has written several books; her latest “Civil Imagination: Political Ontology of Photography” was just published. In 2002, she won the Infinity Award for Writing, presented by the International Center of Photography for excellence in the field of photography.

This book traces the constituent violence carried out by the Zionist military and political leadership. The transformation of Palestine into the State of Israel was not achieved during an unavoidable war between the two peoples, “but by the exercise of systematic and planned violence to create a clear Jewish majority that would correspond to and justify the formation of a Jewish state and the Jew-ification of the state organs. This violence was called the ‘War of Liberation`.” (7) The author makes clear that the term “War of Liberation” is a misnomer. Why did the Zionists wanted to ‘”liberate” a territory from the British, the Palestinians or the Arab states? The terminology “liberation” or “independence” implies a decolonization project, liberation from a foreign power, in a manner that camouflaged the colonization of Palestine by the State of Israel, the author writes. None of these reasons existed in Palestine.

In seven chapters, the photos show a process of the newly established state that destroyed Palestinian society by killing, dividing, expropriating, expelling and preventing those expelled from returning. In order to pretend a democratic façade, the Israelis had to transform the catastrophe imposed on the Palestinians into a non-catastrophe, into what Azoulay calls the “catastrophe from their point of view” – “their”, of course, referring to the Palestinians. (9) The author sets the Zionist narrative, beginning with the dream of return to Zion and ending with the establishment of the State of Israel, and the Arab one, which situates the Nakba as the constitutive event of Palestinian existence and identity, aside. Instead of sticking to the drawing line between Jews and Arabs, Azoulay tries to understand its institutionalization as a central ruling principle of the Jewish state. She presents the catastrophe from a civil perspective and does not present it as an outcome of war that preceded “the creation of the Israeli regime, but as a component and as a product of that regime”. (9)

The photos show that expulsion of the population and the destruction of their homes was done in an organized and well-planned manner. The Zionist myth that all happened in the cause of war lies beside the truth. From its inception, the Israeli government eliminated every possibility of civil life, according to the author. The government did everything that the civil disaster which occurred in Palestine appeared as a “natural phenomenon” or a “necessary evil”. To the detriment of Zionist mythology, the photos tell a different story. Perhaps this photobook is more convincing than thousands of history books because it allows the readers to visually participate in the great injustice that was inflicted upon the Palestinian people by a movement that views itself as a “liberation movement” for Jews but was in fact just a mere colonial one for the Palestinians. This extraordinary set of photographs reawakens not only the disappearance of a country but also the invisibility of its real inhabitants. Impressive!

First published here.

Sonntag, 20. November 2011

Popular Resistance in Palestine

Palestinian resistance against an Israeli “belligerent occupation” is mostly viewed as terrorism and rocket attacks. The brutal violence that was inflicted upon the Palestinian people by the Israeli occupation force is mostly ignored by the West. The most what the Western politicians are doing, is recommending the Palestinian to abstain from using violence, ignoring Israel`s forty-five-year-old occupation and colonization of another people. For them, popular resistance seems immoral or unnecessary.

The late Israeli professor of sociology at the Hebrew University, Baruch Kimmerling, wrote on March 27, 2001 in the Israeli daily “Haaretz”: “Since 1967, millions of Palestinians have been under a military occupation, without any civil rights with, and most lacking even the most basic human rights. The continuing circumstances of occupation and repression give them, by any measure, the right to resist that occupation with any means at their disposal and to rise up in violence against that occupation. This is a moral right inherent to natural law and international law.”

Mazin B. Qzmsiyeh teaches at Bethlehem University and Birzeit University and works for a number of civil organizations. He received his Ph. D from Texas Tech University. He did his postdoctoral training at St. Jude Children Research Hospital and the University of Tennessee (included Clinical Fellowship). He published extensively in areas ranging from Zoology to Genetics. He serves as chairman of the board of the Palestinian Center for Rapprochement between People and coordinator of the Popular Committee against the Wall and Settlements in Beit Sahour. Besides this book, his political writing includes “Sharing the Land of Canaan: Human rights and the Israeli/Palestinian Struggle.

Many Western politicians keep recommending the Palestinian people to struggle for a state by nonviolent means. But hardly any of them ever has called on the Israeli government to restrain from its brutal repression of another people. By limiting their message to the undesirability of violence, they gloss over, according to the author, the long history of nonviolent struggle in Palestine. They do not attempt to ensure a colonized people the right of “plurality, justice, and human rights” (12) What the Palestinians want is “freedom and the right of return, not a flog over a canton called a state” (1) And they do not want what was envisaged for them by the former Israeli general and Army Chief of Staff Rafael Eitan: “When we have settled the land, all the Arabs will be able to do about it will be scurry around like drugged cockroaches in a bottle.” (15).

The author writes the history of popular resistance in Palestine beginning with the Ottoman rule, continuing during the Zionist build-up from 1917 to 1935, the great Arab revolt of 1936 to 1939, the devastation to the Nakba (the catastrophe) from 1939 to 1948, from the Nakba to the occupation of the whole of Palestine in 1967, via the period of the so-called peace process to the current Boycotts, Divestments and Sanctions campaign (BDS).

Qumsiyeh writes that by examining the Palestinian situation, everyone will recognize that there are no examples of completely nonviolent struggle for freedom from colonial occupation. “I cannot think fo a single historical precedent where the struggle for rights was waged solely by violent means or solely by nonviolent means. It seems that history of human struggle is a mix of both to varying degrees.” (21) International law recognizes the right to resists an occupation authority. This right is based not only in Article 3 of the 1949 Geneva Convention but also in the guiding lines set for by the International Tribunal in Nuremberg The statutory argument in article 2 of the indictments (concerning transgressions against the laws on conducts of war) at the Nuremberg Tribunal was based upon the Hague International Convention of 1907, writes the Israeli author Hans Lebrecht which Qumsiyeh quotes. (21) Not only thousands of Palestinians civilians have been killed over the past few decades for simply being Palestinians in Palestine but internationals too, like Rachel Corrie who was deliberately run over by a caterpillar bulldozer or Tom Hurndall who was killed by shot on his head.

The Israeli colonization of Palestinian land cannot be permanently maintained without ideological and material support from outside. The U. S. government, pro-Israeli pressure groups and the European Union give billions of dollars and Euros to Israel, used inter alia for building colonies on occupied land or are invested in the military sector. Billions of dollars are earned from Israeli exports, much of it security-related products, armaments and tourism. The BDS campaign, which Qumsiyeh strongly supports, brings these facts to the fore and attempts to induce governments, churches and private investors to restrain from investments in a country that has been occupying, oppressing and colonizing another people for the last 45 years. The author lists quite a few examples of the worldwide BDS campaign. (215-222) The appendix lists eighty out of 200 groups engaging in popular resistance in Palestine.

The author is optimistic that this form of popular resistance will bear fruit in the long run. This book refutes the claims that Palestinians never tried nonviolence. It would make more sense to ask the Israel military to restrain its violence and use nonviolent means to deal with the resistance. Qumsiyeh´s history of popular resistance in Palestine should be read by everyone who is opposed to colonialism and foreign domination. That is why it transcends the Palestinian case and can be a template for other resistance movements.

First published here, here and here.

Mittwoch, 16. November 2011

The Wandering Who?

Bücher, die sich mit der Frage nach der jüdischen Identität beschäftigen, dürften eine spannende Lektüre abgeben. Diesem nicht so einfachen Sujet hat sich der in Großbritannien lebende israelische Saxophonist Gilad Atzmon in seinem Buch gewidmet. Er geht der Frage nach, was eine jüdische säkulare Person motiviert, sich weiterhin als Jude zu fühlen. Darüber hinaus zeigt das Buch die negativen Konsequenzen einer jüdischen Identität, insbesondere wenn sie nicht auf der jüdischen Religion basiert. Jüdische Identität definiert er als „Jewishness“ (Jüdischkeit), die er vehement ablehnt. Für den Autor begann der Zionismus zu Beginn vielversprechend, bevor er von der „Jüdischkeit“ übernommen worden ist, und daraus resultiere das repressive israelische Verhalten gegenüber den Palästinensern. „Jüdischkeit“ ist für ihn eine säkulare ethnozentrische Ideologie bestehend aus: „Exklusivität, Einzigartigkeitsanspruch, rassischer Überlegenheit und einer tiefen innewohnenden Neigung zur Segregation“.

Der Autor wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 1994 in London. Bescheidenheit scheint nicht zu seinen Stärken zu gehören, wie die einführenden selbstreferentiellen Bemerkungen über seine diversen Talente zeigen. Mit „Stolz“ bezeichnet er sich als einen „selbsthassenden Juden“, „Ich verachte den Juden in mir.“ Seine „Einsichten“ verdanke er Otto Weininger!

Seine Verweise auf jüdische Identität bleiben jedoch selektiv, spekulativ und wenig konzise. Hätte er sich konsequent nur auf diese Frage konzentriert, wäre das Buch ein Beitrag zu dieser wichtigen Debatte gewesen. Dagegen ergeht sich der Autor in kategorischen Aussagen zu Sachgebieten wie z. B. Geschichte, Wirtschaft, Psychologie, Völkerrecht und Menschenrechte. Ein gravierendes Problem des Atzmon-Buches besteht darin, dass der Autor mit zahlreichen Andeutungen arbeitet, um seine wirkliche Message an die Leserinnen und Leser zu bringen. „Jüdischkeit“ und jüdische Identität dienen ihm dabei nur als Vorwand. Im Subtext des Buches werden krude Verschwörungstheorien und antijüdische Vorurteile transportiert. Im November 2010 hat er auf einer Konferenz in Stuttgart erklärt: „Ich denke, dass Israel weit schlimmer ist als Nazi-Deutschland.“ Atzmon scheint von einem Nuklearkrieg zwischen Iran und Israel mit Millionen von Toten auszugehen, um fortzufahren: „Einige mutige Menschen werden sagen, dass Hitler recht hatte.“

Woher stammt die Koinzidenz in der Begrifflichkeit zwischen Atzmon und der Nazi-Terminologie? Nach Meinung des Autors sei es vielleicht die größte Leistung der zionistischen Bewegung, dass sie die jüdische tribale Haltung in ein kollektiv funktionierendes System verwandelt habe. „Betrachtet man den Zionismus als organismus, (sic!) würde dies zu einem grundlegenden Wandel unserer Sicht der Weltpolitik führen.“ (21) Schon die Nazis benutzen den Begriff „Organismus“, um den Unterschied zwischen der organischen Natur der menschlichen Gesellschaft im Gegensatz zu einer rein bürokratischen Organisation zu beschreiben. Die Nazis haben den Juden unterstellt, sie wollten die deutsche Nation „versklaven“. Atzmon schreibt: „Wie konnte es Amerika zulassen, sich von Ideologien versklaven zu lassen, die von Natur aus mit ausländischen (zionistischen) Interessen verbunden sind?“ (26) Atzmon benutzt „zionistischer organismus“ an verschiedenen Stellen des Buches.

Der Autor bemüht sich nahezu krampfhaft, die Existenz eines zionistischen „organismus“ oder Netzwerkes nachzuweisen. Ein solches sei verantwortlich für die US-amerikanischen Aggressionskriege und die Kreditklemme. An Personen wie Paul Wolfowitz, Scooter Libby und Alan Greenspan wird nun das, was Atzmon das “kollektive funktionierende System” oder wie er es vorzugsweise als „dritte Kategorie Bruderschaft“ (third category brotherhood) bezeichnet, und die als “rassische Solidarität” und mit „Zionismus“ gleichsetzt wird, exemplifiziert. (21) Der Autor behauptet allen Ernstes, ohne auch nur einen Beweis dafür vorzulegen, dass Greenspans Geldpolitik auf seiner jüdischen (oder zionistischen) Identität beruhte und das Ziel verfolgte, den Staat Israel zu unterstützen. Um diese Unterstellung „glaubhafter“ zu machen, schreibt Atzmon en Passant, dass jüdische Bankiers einen „Ruf“ als „Unterstützer und Finanziers von Kriegen und sogar der kommunistischen Revolution“ hätten. Diese hochrangigen jüdischen Politiker „blieben im Ausland, anstatt nach ‚Zion` zurückzukehren, um dem zionistische Interesse so gut wie möglich zu dienen“. Und er fragt weiter: „Wie kommt es, dass Amerika seine Wolfowitzes nicht zurückhalten konnte? Wie kommt es, dass Amerika es zulässt, dass Außenpolitik durch einige rücksichtslose ‚Zio-driven` Think Tanks gestaltet wird?“ Atzmon ist sich über die Problematik solcher Behauptungen durchaus bewusst und baut vor, indem er schreibt, dass die Kreditklemme „keine zionistische Verschwörung oder gar eine jüdische Verschwörung gewesen ist (…), denn es geschah alles in der Öffentlichkeit. Es ist tatsächlich ein Unfall.“ (30) Bei der Kapitelüberschrift „Credit Crunch or Zio-punch?“ hätten aber die Alarmglocken läuten müssen. Man fragt sich auch, warum führt er diese Beispiele in einem Buch über „jüdische Identität“ überhaupt an und weist darauf hin, dass jüdische Bankiers nicht nur Kriege finanzierten, sondern auch anzettelten? Die Medien hätten es nach Atzmon versäumt, „die amerikanische Öffentlichkeit vor der Gefahr von innen zu warnen“.

Der Autor pflegt ein ausgeprägtes Feindbild. Sein Hass richtet sich nicht nur gegen die Zionisten, sondern vor allem gegen jüdische Linke, linke Antizionisten und alle, die sich der Politik der israelischen Regierung als Juden widersetzen, wie z. B. Gruppen wie „Juden gegen Zionismus“ oder „Juden für Gerechtigkeit in Palästina“. Diese Personen agierten in einem globalen Netzwerk von „Jüdischkeit“ und Zionismus und zeichneten sich durch ein pathologisches Festhalten an ihrer jüdischen Identität aus. Atzmon lehnt nicht den Zionismus als koloniale Bewegung ab, sondern verurteilt sie nur, weil sie jüdisch ist. Ebenso stimmt er mit der These des Zionismus überein, dass es keine nicht-zionistische jüdische Identität geben könne. Er lehnt auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ab.

Wie denkt Atzmon über den Holocaust? Er leugnet nicht den Holocaust direkt, sondern flirtet eher mit den Holocaust-Leugnern. Der Holocaust „ist kein historischer Narrative, über den frei von Historikern, Intellektuellen oder einfachen Menschen debattiert wird“. Dieser müsse „richtig analysiert“ werden. „Ich denke, dass 65 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wir berechtigt sind zu beginnen, Fragen zu stellen. Wir sollten nach historischen Beweisen und Argumenten fragen, anstatt einer religiösen Erzählung zu folgen, die durch politischen Druck und Gesetze aufrechterhalten wird.“ (174f.) Was soll die Frage nach den „historischen Beweisen“? Meint er etwa, es habe keine industrielle Vernichtung gegeben? Was Atzmon wirklich über dieses abscheuliche Verbrechen denkt, wird nicht klar. Er arbeitet auch hier wieder mit Andeutungen, wenn er fragt: „Warum wurden die Juden gehasst?“ Seine Schlussfolgerung überlässt er dem Leser, der die Bedeutung seiner Andeutung vermuten sollte.

Das Buch ist in einem Punkt sehr hilfreich: Es liefert Einblicke in Atzmons bizarre Gedankenwelt: Hass auf Linke, Sozialisten und Marxisten, jüdisches und zionistisches Verschwörungsdenken, Sympathie für die Hinterfragung der Ergebnisse der Holocaust-Forschung, Ablehnung der Charta der Menschenrechte gepaart mit einer gehörigen Portion Eitelkeit. Vielleicht ist dem Autor gar nicht bewusst, dass er ein politisches Pamphlet geschrieben hat, das sich eines Tages gegen das Judentum in den USA wenden könnte, wenn die These an Fahrt gewinnt, dass jüdische Persönlichkeiten für die US-Kriege und am Betrug am US-amerikanischen Volk verantwortlich sind und ihn dafür als "Kronzeugen" anführen. Das Buch ist sehr gut geschrieben, was dessen schädliche und rassistische Thesen umso gefährlicher machen.

Montag, 14. November 2011

Across The Wall

“Across the Wall” arose from collaboration between scholars from Israel and Palestine, seeking to arrive at a shared framework for studying the history of this tormented land. Historians from Israel/Palestine came together for dialogue on history, identity, and the meaning of the conflict. They argue for a concept of a “bridging narrative” that can accommodate incompatible national met-narratives. “Bridging narratives are usually intercalary chapters, short pieces that help connect the so-called ‘plot` chapters”. (3) All contested issues in the history of the Israeli-Palestinian conflict are discussed.

This get-together was characterized by mutual respect for each other not like a meeting between Israeli and Palestinian historians in Paris in May 1998, in which they clashed about issues such the equation between Zionism and colonialism and the designation of the Nakba as “ethnic cleansing”. At the forefront of this clash were Benny Morris and Itamar Rabinovitch. These Israeli historians, according to Pappé, doubted the expertise of, or the access to historical documents by, Palestinians necessary for writing their own history. This would mean that, at least in that case, only the colonizer can write the history of the colonized. The late Edward Said rebuffed vehemently this patronizing attitude by saying that not only had the “Israelis perpetrated the Nakba, they now also tried to confiscate its historiography”. (9)

The group focused only on issues of the past that haunt the present and surely affect the future. They also agreed on ditching the Western “paradigm of parity” i. e. that there are two warring parties in Palestine who each carries equal responsibility for both the outbreak of, and the solution to, the conflict. So far, this paradigm failed, because the situation on the ground is dominated by disparity and inequality between a brutal colonial regime and an oppressed, dispossessed and colonized people. And the parties do not have the same claim on the Land of Palestine.

The book contains articles by Ilan Pappé, Jamil Hilal, Moshe Zuckermann, Ehud Aviv, Dan Rabinowitz, Salim Tamari, Nur Masalha, Issam Nassar, Rema Hammami, Oren Yiftachel, Musa Budeiri, Lev Grinberg and Uri Davis. All the authors have one thing in common; they all transcend the biases inherent in national narratives, although most of the articles are critical of the Zionist narrative.

Aviv, Rabinowitz and Zuckermann try to deconstruct the hegemonic Israeli scholarly narrative of the past and present. They show early Israeli anthropological studies on Palestinians and their fabrications and manipulations embedded in the Zionist presentation of the realities in Israel and Palestine. The “cultural” views by the “Israeli Orientalist establishment” and their “adherence to certain segments of Zionism ideology and rationalization, had a profound political and intellectual impact” on the narrative, writes Rabinowitz. (68) Zuckermann exposes the instrumentalization of the Holocaust memory in Israel and concludes that “the memory of the Holocaust still remains to be liberated from the ideological chains of its instrumentalization”. (86)

Tamari explores the chronicles of the Palestinian community of Jerusalem in 1948 and beyond, an field of inquiry neglected by historians. For him, there is no doubt that the Zionist expelled 60 000 Palestinian Arabs from West Jerusalem according to a “central blueprint”; perhaps the best evidence of their true erstwhile intentions is that Israel continues to refuse to allow the refugees to return; “to this day, not one Palestinian Arab refugee has been able to make it back to his or her home in West Jerusalem”. (105) Masalha expands the notion of the Nakba – the Palestinian catastrophe created by Israel – beyond 1948, well into the late 1950s. Israeli policies towards the question of the refugees are integrated into the concept of the Nakba. On the one hand, Israel denies the Nakba, on the other hand, tries to resettle the refugees in the Arab world. This liquidation of the Palestinian refugee problem, through dispersal and resettlement remained a constant Israel goal, writes the author. These Israeli “solutions” underscore “Israel´s denial of any responsibility or culpability for the creation of the refugee problem. Morally, this is of course a highly questionable position to maintain, one that the victiims of the Nakba and their descendents will continue to challenge.” (154)

Pappé focuses on colonialism and Israeli nationalism and Hilal on the Palestinian nationalism. Pappè argues that before making “peace”, reconciliation between the Zionist victimizer and the Palestinian victim must come first. There has to be a “national discourse” between the two because “neither Israel´s huge sophisticated weapon arsenal nor the real or imaginary fears that are brought into play will enable Israel to silence its victims and escape the justice they demand.” (176) For Hilal, Israel´s unilateral separation accompanied by a forced Bantustanization with symbolic sovereignty might lead to the “re-emergence of a Palestinian resistance movement rekindling the struggle for decades to come”. (215)

Grinberg´s outlook on Israeli democracy is rather pessimistic. It will have ended together with the so-called peace process with Yitzhak Rabin`s assassination by a religious fundamentalist. Rabin´s assassination returned Israel to a “mythological debate”. This lies at the bottom of the political crisis that has “characterized Israel ever since (…) just when it was to imagine peace and the process seemed irreversible, Rabin´s assassin targeted the democratization process and succeeded in derailing it.” (391)

Two authors see the future of the inhabitants of Israel/Palestine in a “one-state”. Uri Davis searches for an a-national or de-segregationist definition of the inhabitants of a unitary democratic state in Palestine “liberated from colonization, occupation, and Apartheid”. For 2 000 years, Palestine was part of Great Syria within the Ottoman empire till the Zionist started colonizing it. Pappé sees the only solution to the conflict just in such one entity again: “One-State Palestine, a state for all its citizens, free and sovereign, democratic and independent.” (435) Why isn´t such an idea thrilling to the political classes in Israel and Palestine? Unfortunately, the authors do not answer this question.

The book presents a detailed analysis of the central issues of the Israeli Palestinian conflict. A tiny minority of scholars got together and published their excellent findings in an appealing book. Where are the forces that can translate these farsighted ideas into practice and make them a reality? The reading could be very inspiring for everybody interested in the Middle East.

First published here, here and here.

Sonntag, 13. November 2011

Norbert Copray, Fairness

Ein Buch über Fairness zu schreiben, erscheint auf den ersten Blick überflüssig, hört und liest man doch täglich über „Fairness“, „fair“ oder „Fair Trade“. Ein Allerweltswort, eine Selbstverständlichkeit, aber gleichzeitig hoch tabuisiert. Wer es anspricht, macht sich keine Freunde und erntet mitleidige Blicke. Fairness ist keine „weich gespülte Mitmenschlichkeit“, sondern das genaue Gegenteil: „Fair sein heißt nicht nett zu sein, sondern sehr deutlich, konsequent und mitunter mit harten Ereignissen für Fairness zu sorgen.“

Norbert Copray ist geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung und freiberuflicher Coach von Führungskräften, Unternehmen und Organisationen. Zeitweise hat er bis zu 300 Mitarbeiter/innen in langfristigen Reorganisationsprozessen geführt. Er ist langjähriges Mitglied der Jury des Erich-Fromm-Preises.

Fairness hat für den Autor nichts mit Nächstenliebe zu tun, noch ist sie gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. „Fair ist nicht gerecht und gerecht ist nicht fair.“ Fairness ist vielmehr “das Kind der Gerechtigkeit“. Bei diesem Thema geht es Copray nicht um eine „eierlegende Wollmilchsau“, sondern um ein „Gesamtbild von Fairness, Fairness-Kompetenz und Fairness-Praxis zu gewinnen“. Und es gehe weiterhin darum, sich und sein Umfeld, seine Organisation sowie sich selbst in diesem Umfeld zu verorten und eine Vorgehensweise zum weiteren Aufbau von Fairness-Kompetenz und –Qualität zu entwickeln.

Das Buch stellt auch einen Erfahrungsbericht zehnjähriger Arbeit der „Fairness-Stiftung“ dar. Sie hat eine Fairness-Formel entwickelt, nach der Fairness bedeutet, „in Kooperation mit anderen seine Lebensziele autonom zu verwirklichen“. Und in Anlehnung an die „Goldene Regel“ bedeutet die Formel, praktizierte Fairness, indem „Du Dich und andere so behandelst, wie Du behandelt werden willst, wenn Du auf das Wohlwollen anderer angewiesen bist“ (…“wenn Du auf die Rücksichtnahme anderer angewiesen bist“ und „…“wenn Du auf das Entgegenkommen anderer angewiesen bist“.

Copray liefert mit diesem Buch einen Gegenentwurf zum „Recht des Stärkeren“, das im Wirtschaftsleben, Behörden und generell in der Lebenswelt immer noch vorherrschenden ist und zunehmend seinen Tribut in Form von „Burnout“, „Mobbing“, „Intrigen“, „Stalking“, „Nötigung“ und anderen unfairen Attacken fordert. Allein in Deutschland gibt es jährlich etwa 10 Millionen Opfer von Mobbing. Mobbing werde mit dem Ziel betrieben, Menschen zu demütigen oder sie loszuwerden, schreibt der Autor. Beliebt ist das Cyber-Mobbing, um Personen mit anderer Meinung wie z. B. über den Nahostkonflikt fertigzumachen. Besonders brutal wird das Mobbing via Internat, SMS oder Twitter unter Schülern/innen betrieben. Auch können über Flashmobs und Flashmobbern via Internet, SMS oder Twitter kurzerhand große Mengen von Menschen an einen bestimmten Ost dirigiert werden, wie das Beispiel der Revolutionen in der arabischen Welt, beim Aufstand in Iran gegen die unfairen Wahlen oder bei den Protesten gegen die Gewaltherrschaft Bashar al-Assad in Syrien zeigen.

Nach Ansicht des Autors gibt es eine natürliche „Fairness-Intuition“ unter Führungsperson; sie benötige man, um Erfolg zu haben und mit Untergebenen fair umzugehen. Fairness und Erfolg bilden folglich eine Einheit. Die Sensibilität für „ungleiche Behandlung“ scheint jedoch noch nicht ganz abgestorben zu sein. Im Kapitel „Das Fairness-Fiasko“ zeigt Copray auf, wie man organisierte Unfairness durchschauen kann. Gefolgt von Ausführungen über Fallen, wie Mitarbeiter/innen in einen „unfairen Sumpf“ geraten können. In den Kapiteln „Fairness-Kompetenz“ und „Fairness-Professionalität“, um zu einer belastbaren Fairness-Qualität zu kommen. Am Ende stellt der Autor Überlegungen zu einem Fairness-Ethos an. Er vermeidet von einer Fairness-Ethik zu sprechen, weil Ethik zu sittlich richtigen menschlichen Handeln anleiten will, wohingegen das Fairness-Ethos zu einer Haltung führen soll, die jede einzelne Person anstreben könne. In allen Kapiteln werden zahlreiche Fallbeispiele vorgestellt, die sehr bereichernd sind.

Neben langjährigen Mobbing-Opfern dürfte das Buch auf für noch nicht gemobbte Leser und Leserinnen ein großer Gewinn sein, weil es nicht nur destruktive Mechanismen offenlegt, sondern auch für positive Abhilfe sorgt. Es sollte nicht nur in Führungsetagen der Wirtschaft und Personalabteilungen von Behörden zur Pflichtlektüre gehören, sondern auch im Bildungsbereich zum Einsatz kommen, um unfaires Verhalten durch Cyber-Mobbing unter Schülern/innen besser Herr zu werden. Sehr lesenswert.

Erschienen hier.