Montag, 9. Mai 2011

Livia Rokach, Leben mit dem Schwert. Israels Heiliger Terror

Mit der Frage „Israel, ein Terrorstaat?“ leitet der Verleger Abraham Melzer seine Einführung in die Neuauflage des Buches von Livia Rokach ein, das erstmalig 1980 unter dem Titel „Israel´s Sacred Terrorism“ in den USA und auf Deutsch unter „Israels Heiliger Terror“ 1982 erschienen ist. Unter dem Titel „Leben mit dem Schwert. Israels Heiliger Terror“ ist es nun wieder verfügbar. Um das Resümee vorweg zu nehmen: Das Buch scheint heute noch wichtiger zu sein als zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung, weil es über ein Verhaltensmuster israelischer Regierungen und seiner politisch-militärischen Klasse Einblicke liefert, die sich bis heute scheinbar nicht verändert haben.

Livia Rokach starb 1984 in einem Hotelzimmer in Rom durch Selbstmord. „Il Manifesto“ vom 2. April 1984 berichtete in seinem Nachruf jedoch, dass Livia tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden sei. In den 1960er Jahren emigrierte sie als 23-jährige von Israel nach Italien und bezeichnete sich fortan als „italienische Autorin und Journalistin palästinensischer Herkunft“. Sie schrieb für die israelische Tageszeitung „Davar“ und berichtete für das israelische Radio. Beide beendeten die Arrangements, weil Rokach ihre Sympathien für die Palästinenser und den Kommunismus nicht verhehlte. Danach schreib sie für die palästinensische Tageszeitung „Al-Fajr“. Sie war mit dem Chefredakteur der italienischen Kulturzeitschrift „Il ponte“, Enzo Enrique Angnoletti, liiert; sie nahm die italienische Staatsbürgerschaft an.

Rokach war die Tochter des ersten Bürgermeisters von Tel Aviv und ehemaligen Innenminister Israels, Israel Rokach, im Kabinett von Ministerpräsident Moshe Sharett. Dessen Tagebücher wurden von Sharetts Sohn, Jaquov, 1979 auf Hebräisch veröffentlicht. Livia Rokach publizierte in „Israels Heiliger Terror“ zentrale Passagen aus diesen Tagebüchern, die tiefe und grundlegende Einblicke in das Verhalten der israelischen politischen und militärischen Klasse geben, die sich scheinbar bis heute tradiert haben. Die Tagebücher Sharetts sind noch immer nur auf Hebräisch verfügbar.

Livia Rokach war eine mutige, couragierte Frau, die sich für die Befreiung der unterdrückten Völker vom Kolonialismus eingesetzt hat. Sie war eine Sabra, eine in zweiter Generation in Israel/Palästina Geborene. Für sie war Zionismus gleichbedeutend mit Kolonialismus. Der Befreiungskampf des palästinensischen und des vietnamesischen Volkes bildeten eine Einheit; Vietnam und Palästina waren für sie zwei Seiten derselben Medaille. Ihr ganzes politisches Engagement galt einem säkularen Staat Palästina, was das Aufgehen Israels in einem solchen bedeutete. Diese politische Haltung, die auch in Italien singulär war, hat ihr zahlreiche Feindschaften eingetragen und sie immer stärker isoliert.

Die Bisanz der Sharett Tagebücher machte es für seinen Sohn Yaquov sehr schwierig, einen israelischen Verlag zu finden. Yaquov Sharett versuchte, mit Unterstützung des israelischen Außenministeriums und unter zur Hilfenahme eines US-amerikanischen Anwalts, die Veröffentlichung von „Israel´s Sacred Terrorism“ zu verhindern. Er macht Urheberrechtsfragen und ökonomische Interessen der Familie geltend. Als es dann zum Schwur kommen sollte, unterstützte das israelische Außenministerium nicht mehr das Anliegen des Sohnes von Moshe Sharett. Dazu schrieb Uri Avnery in seiner Zeitschrift „Hoalam Hazeh“ vom 23. September 1980: „Die Politiker in Jerusalem waren der Ansicht, dass das Beschreiten des Rechtsweges ein Fehler ersten Ranges wäre, da dies dem Buch eine weit größere Publizität verschaffen würde.“

Angeheizt wurde die Agitation gegen Rokachs Buch durch einen Artikel der israelischen Tageszeitung „Maariv“ vom 4. April 1980 unter der Schlagzeile „Die Hasser Israels in den USA übersetzen die Tagebücher Moshe Sharetts ohne Erlaubnis“. Die „Association of Arabic-American University Graduates“ (AAUG), die für die englische Ausgabe verantwortlich zeichnete, ließ sich durch die Drohungen des Anwalts Martin Novak nicht beeindrucken und publizierte dieses aufschlussreiche Buch. Gegen die Veröffentlichung der Textauszüge aus den Tagebüchern konnten keine Einwände erhoben werden, da sie weder aus dem Zusammenhang gerissen waren, um einen falschen Eindruck zu erwecken, noch politisch-interpretatorisch entstellt wurden, sodass selbst Yaquov Sharett keinerlei Handhabe hatte, weiter juristisch dagegen vorzugehen. Übrigens: Livia Rokach hat nur ein Prozent der Tagebücher veröffentlicht, um ihre Thesen zu untermauern.

Durch ihr politisches Engagement geriet Rokach in Italien zunehmend in die politische Isolierung. Für ihr Buch „Israel im Libanon. Zeugnisse eines Genozids“ konnte sie keinen Verleger finden. Für ihre Weltanschauung und ihre radikalen politischen Ansichten fanden sich immer weniger Unterstützer, und sie verstrickte sich immer tiefer in die inneritalienischen Grabenkämpfe, die sie durch ihre publizistische Tätigkeit begleitete. Die bürgerliche Presse pflegte das Image einer gescheiterten, verzweifelten Frau, die angeblich vor der Räumung ihrer Wohnung stand, um ihren Selbstmord für ihre Leserschaft zu „rationalisieren“.

Aus einem Gespräch mit einer israelischen Persönlichkeit, die Livia Rokach 1983 in Rom getroffen hat, habe ich erfahren, dass sie sich damals in einer schwierigen seelischen Verfassung befunden und einen depressiven Eindruck gemacht habe. „Sie fühlte sich von ihren politischen Freunden verraten.“

Ein zentrales Anliegen von Livia Rokach war anhand der Tagebuchaufzeichnungen Sharetts, zur Entlarvung des Mythos von Israels Sicherheit und seiner Sicherheitspolitik beizutragen, was ihr auch gelungen ist. So schreibt sie über die immer beschworene Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten: „Die arabische Bedrohung war ein von Israel erfundener Mythos, der den arabischen Regierungen aus internen und innerarabischen Gründen nicht völlig geleugnet werden konnte, obwohl sie ständig neue israelische Kriegsvorbereitungen fürchteten.“ Die Absicht des israelischen Sicherheitsestablishments sei es immer gewesen, „die arabischen Staaten in eine militärische Konfrontation zu drängen, die zu gewinnen die israelischen Führer sich immer sicher waren“. Israel sollte in eine Großmacht des Nahen Ostens verwandelt werden.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland und noch verstärkter in den USA wird von Wissenschaftlern immer noch das Märchen von einer arabischen Bedrohung des kleinen David durch den riesigen arabischen Goliath verbreitet. Nichts davon könnte weiter von der historischen Wahrheit entfernt sein. Wie die Tagebücher Sharetts deutlich zeigen, war „die Besetzung von Gaza und des Westjordanlandes seit den frühen fünfziger Jahren Teil der israelischen Pläne“. Auch die zahlreichen militärischen Aggressionen Israels gegenüber dem Libanon werden immer wieder durch ein angebliches israelisches „Sicherheitsbedürfnis“ gerechtfertigt. Aber auch hier nennt Sharett in seinen Tagebüchern den wirklichen Verantwortlichen: David Ben-Gurion und dessen aberwitzigen Plan einer „Christianisierung“ des Libanon; die inner-libanesischen Konflikte seien von ihm am Reißbrett erfunden worden. Diesen politischen Wahnsinn verfolgte auch Ariel Sharon, als er 1982 im Feldzug „Frieden für Galiläa“ in den Libanon einfiel und mit dem libanesischen Präsidenten Bachir Gemayel einen Separatfrieden schließen wollte, um einen Maronitischen Staat mit Israel als Schutzmacht zu schaffen.

Die Auszüge aus Sharetts Tagebüchern, die acht Bände umfassen, lesen sich wie ein Krimi. Durch diese minutiösen Aufzeichnungen offenbart sich für die Leserschaft ein politisches Verhaltensmuster der israelischen politischen und militärischen Klasse, die sich bis heute scheinbar tradiert hat. In der Gründungsphase Israels wurden die Fundamente gelegt, die Israels militärische Aggressionen gegen seine Nachbarn oder gegen unliebsame Politiker zeigen. Ob nun Nachbarländer überfallen werden wie der Libanon, wenn ein Massaker wie im Gaza-Streifen 2008/09 angerichtet wird oder wenn Personen in anderen Ländern liquidiert, entführt oder auf hoher See hingerichtet werden wie die neun türkischen Friedensaktivisten auf der „Mavi Marmara“.

Livia Rokach sieht diese Verhaltensweisen auch in der expansiven Ideologie des Zionismus grundgelegt. Der Zionismus habe sich als Kraft, „die bewusst und programmatisch auf eine ständig fortwährende Gewalt- und Konfliktbereitschaft im Nahen Osten gerichtet ist, konsolidiert und ausgeweitet“. Seine „Strategie des Terrors, der Provokation und der politischen Subversion“, die Sharett bereits in seinen Tagebuchaufzeichnungen für das erste Jahrzehnt israelischer Staatlichkeit diagnostiziert hat, habe sich auf den gesamten Nahen Osten ausgebreitet, so die Autorin. Sie hält den Zionismus für nicht reformierbar.

Was sich in diesem Bändchen nachlesen lässt, sollten alle an Israel Interessierten zur Kenntnis nehmen. Dass Abraham Melzer dieses „verschollene Juwel“, das enormen politischen Sprengstoff enthält, wieder neu aufgelegt hat, verdient höchste Anerkennung. Ein überaus spannendes Buch von der ersten bis zu letzten Seite. Ein Muss auch für alle Israellobbyisten, aber nicht nur für diese.

Erschienen hier.