Sonntag, 1. Mai 2011

Robert Fisk, Sabra und Schatila

Das Massaker durch christliche Phalangisten in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila vom 16. bis 18. September 1982 unter den Augen der israelischen Besatzungstruppen gehört zu den grauenvollsten Massakern, die im Namen von Christen und eines sich als „jüdisch und demokratisch“ verstehenden Staates in so kurzer Zeit angerichtet worden ist. Die Zahl der Opfer schwankt zwischen 700 bis zirka 2 000.

Robert Fisk gehörte zusammen mit zwei anderen Kollegen zu den ersten westlichen Journalisten, die unmittelbar nach dem Massaker die Flüchtlingslager aufsuchten. „Es waren die Fliegen, die es uns sagten.“ Was sich ihnen darbot, war ein Bild des Horrors und des Grauens, begleitet durch einen penetranten Verwesungsgeruch, der auch durch dauerhaftes Duschen des Autors nicht weichen mochte. Es ist schwerste Kost, die der Autor, der zu den besten Kennern des Nahen und Mittleren Ostens gehört, den Lesern/Innen vorsetzt.

Wie konnte es überhaupt zu einer solchen Orgie kommen? Letztendlich war der Auslöser dieses Massaker der israelische Feldzug vom 6. Juni 1982 unter dem Motto „Frieden für Galiläa“. Die PLO hatte sich nach ihrer gewaltsamen Vertreibung durch das Massaker vom „Schwarzen September“ 1977 durch die Truppen des jordanischen Königs Hussein im Libanon als Staat im Staate etabliert und das Land als Ausgangsbasis für Anschläge gegen Israel genutzt. Yassir ‚Arafat wurde von Seiten Menachem Begins, des Ministerpräsidenten Israels, als „Hitler“ dämonisiert. In einem Brief an US-Präsident Ronald Reagan stellte sich Begin als einer dar, der nach „Berlin“ marschieren wollte, um „Hitler“ zu liquidieren. Die permanenten Vergleiche Arafats mit „Hitler“ und die der Palästinenser oder Araber mit den „Nazis“ sind vermutlich Begins Traumatisierung als Holocaust-Überlebender geschuldet; seine ganze Familie wurde von den Nazis in Polen ermordet.

Verteidigungsminister Ariel Sharon und sein Generalstabschef Rafael Eitan ließen Begin über ihre wirklichen Kriegsziele im Unklaren. Abgesegnet vom israelischen Kabinett war offiziell nur die Errichtung einer 25-Kilometerlangen „Schutzzone“ im Süden des Libanon. Sharon und sein Generalstabschef marschierten, getragen vom Erfolg der israelischen Armee, bis Beirut, um dem „Hitler“ Arafat den Garaus zu machen, was insofern gelang, als Arafat mit einigen Getreuen nach Tunis ins Exil gehen musste und seine PLO-Kämpfer auf einige arabische Staaten verteilt worden sind.

Dem israelischen Überfall auf Libanon lag die irrsinnige Idee der israelischen Regierung zu Grunde, mit dem christlichen Präsidenten des Libanon, Baschir Gemayel, einen Separatfrieden abzuschließen und dadurch quasi eine Israelhörige Regierung im Libanon zu etablieren. Nach seiner Wahl zum Präsidenten im August 1982 soll er sich zwei Wochen vor seiner Ermordung mit Israels Ministerpräsidenten Begin getroffen haben. Am 14. September 1982 fiel Gemayel einem Attentat zum Opfer, das Habib Tanious Shartouni, ein libanesischer Christ, ausgeführt hatte; er warf Gemayel vor, sein Land an Israel verkaufen zu wollen. Zwei Tage später verübten phalangistische Milizen das Massaker in Sabra und Schatila. Robert Fisk stellt dar, dass das Massaker nur mit Wissen und Duldung der israelischen Militärführung durchgeführt werden konnte. Um jeden Zweifel auszuschließen, reiste der Reporter zu Major Haddad in den Südlibanon, um ihn dazu zu befragen, da man anfänglich seinen Männern versuchte, das Massaker in die Schuhe zu schieben.

Das israelische Libanonabenteuer dauert bis zum Mai 2000. Der damalige Ministerpräsident Ehud Barak zog nachts Hals über Kopf die israelischen Besatzungstruppen aus der so genannten Sicherheitszone ab, wie weiland die israelischen Besatzer sich am 26. September 1982 klammheimlich aus Beirut zurückgezogen hatten. Dieses Militärabenteuer hat über 1 000 israelischen Soldaten das Leben gekostet, für nichts und wieder nichts. Wenigstens gab es nach Bekanntwerden des Massakers die größte Demonstration gegen die Regierung, auf der in Tel Aviv über 300 000 Israels den Rücktritt der Regierung Begins gefordert haben.

Die zur Aufklärung der Umstände des Massakers eingerichtete Kahan-Kommission enthüllte, dass der israelische Geheimdienst Mossad ein komplettes System der Zusammenarbeit mit der Phalange unterhielt und dessen Mitarbeiter sich sogar die Büros mit den Pahlangisten teilten, die an den Morden beteiligt waren. Die Kommission forderte den Rücktritt Sharons und schrieb ihm ins Stammbuch, dass er nie wieder das Amt des Verteidigungsministers bekleiden dürfe. Wie bekannt, kam es noch viel schlimmer, Sharon wurde 2001 zum Ministerpräsidenten Israels gewählt.

Fisk zeigt, dass ein Teil der israelischen Militärführung über die Ereignisse in Sabra und Schatila bestens Bescheid wussten, aber nichts taten. Deshalb tragen sie dafür auch eine Verantwortung. Der Autor zitiert aus einem Telefonat des US-Diplomaten Morris Draper an Bruce Kashdan, einen Beamten des israelischen Innenministeriums, der über die Ereignisse ein detailliertes Tagebuch geführt hat, und vor der Kahan-Kommission ausgesagt hat: „Sie müssen die Massaker stoppen. Was dort geschieht, ist obszön. Ich habe einen Beamten im Lager, der die Toten zählt. Sie sollten sich schämen. Die Situation ist scheußlich und grausam. Die töten Kinder dort. Sie haben absolute Kontrolle über das Gebiet, und deshalb sind sie auch verantwortlich für dieses Gebiet.“ Juristische Konsequenzen gab es für niemanden.

Angeblich befanden sich in den Lagern nur „Terroristen“, auf die man nach israelisch-politischer Lesart Jagd machen kann. Solange diese Art der Dehumanisierung von Menschen, die nichts anderes als ihre Freiheit von Unterdrückung, Besatzung und Ungerechtigkeit haben wollen, solange wird der Hass über die Empathie obsiegen. Robert Fisk gehört nicht zur Sorte der „Embebbed Journalists“, die im Tross der westlichen Besatzungstruppen wie weiland die Missionare mit den Kolonisatoren über die „unterentwickelten“ Völker herfallen und dem heimischen Publikum eine Kriegsberichterstattung liefern, die den Besatzern gefällt, sondern sein Engagement ist getragen von der Suche nach den wirklichen Gründen eines politischen Ereignisses wie in diesem Fall des Massakers in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Seine Courage und seine journalistische Gradlinigkeit sollten Ansporn für andere sein. Hofschranzen Journalismus ist niemals spannend und packend. Sein Bericht über dieses Massaker ist auch nach fast 30 Jahren immer noch eine bedrückende Lektüre der Zeitgeschichte und deshalb so lesenswert.

Das Buch ist hier erschienen.