Donnerstag, 4. Oktober 2012

Der messianische Premier

Benjamin Netanjahu scheint zum Angriff auf Iran entschlossen. Sein Hass auf die Palästinenser hat tiefe Wurzeln, seine Arroganz selbst gegenüber dem US-Präsidenten ist beispiellos. Selbst israelische Top-Geheimdienstler sehen in ihm eine Gefahr.

Von Ludwig Watzal

Wenn es zu einem Krieg im Nahen Osten kommt, dann scheint dies das Verdienst eines Mannes zu sein: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Kein Politiker hat über Jahre hinweg so intensiv an der Dämonisierung einer fiktiven nuklearen Bedrohung Israels durch Iran gearbeitet wie er. In einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung warnt er solange vor einer angeblichen Atombewaffnung Irans, bis dieses Szenario als vermeintliche Tatsache wahrgenommen wird.

Netanjahus Beschwörungen spielen bewusst mit der Angst der Menschen: Die Welt befände sich im Jahre 1938; Iran sei wie Nazi-Deutschland; Achmadineschad sei ein Wiedergänger von Hitler, und Israel drohe ein zweiter Holocaust. Dass Politiker eine solche absurde Polit-Rhetorik an den Tag legen, sollte niemanden überraschen. Dass aber fast die gesamte westliche Medienwelt diesen Unfug für bare Münze nimmt, ist jedoch zutiefst beunruhigend. Bei der Dämonisierung Irans tun sich insbesondere die führenden US-Medien hervor, die nicht nur Netanjahus Horrorszenarien begierig weiterverbreiten, sondern bereits auch die Lügen der Bush-Regierung über die „Massenvernichtungswaffen“ Iraks und den Überfall auf dieses Land lautstark befeuert haben. Es sind die gleichen Medien, die heute wieder für einen Waffengang gegen Iran die Kriegstrommeln schlagen.

Wie ist das „Phänomen“ Netanjahu samt seines endzeitlichen Tunnelblicks zu erklären? Der israelische Ministerpräsident hat sich seit über 30 Jahren mit Terrorismus beschäftigt und darüber auch Bücher publiziert. Ideologisch hat er sich in dieser Zeit nicht weiterentwickelt. Der Widerstand der Palästinenser gegen die seit 1967 völkerrechtswidrig Besetzung ihrer Heimat gilt ihm gemeinhin als „Terrorismus“.

Neben seinen prägenden Jahren in den USA, die ein Glücksfall für Netanjahu waren und ihm den wohlklingenden, einschmeichelnden amerikanischen Akzent beschert haben, sind als persönlichkeitsprägend sein Vater, Benzion, sein Bruder Jonathan sowie sein Frau Sarah zu nennen.

Netanjahu, geboren 1949, wurde in der Tradition des revisionistischen Zionismus erzogen. Sein Vater war Sekretär von Vladimir Jabotinsky, des Gründers dieser Bewegung. Dieser Rechtszionismus beansprucht das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina, einschließlich des heutigen Jordanien, als „Eretz Israel“ (Land Israel). Die Likud-Partei, deren Vorsitzender Netanjahu ist, steht in dieser Tradition.

Traumatisch für Benjamin Netanjahu war der Tod seines Bruders Jonathan. Er leitete die Befreiungsaktion einer von palästinensischen und deutschen Terroristen entführten französischen Passagiermaschine nach Uganda. Als einziger Israeli überlebte er den Einsatz auf dem Flughafen Entebbe nicht. Bei dieser Entführungsaktion selektierten deutsche Terroristen die Passagiere nach ihrer Glaubensrichtung; alle nicht-jüdischen wurden freigelassen. Die jüdischen Passagiere mussten durch ein israelisches Kommando befreit werden.

Netanjahus engste Beraterin ist seine Frau Sarah. Ihr Einfluss ist bestimmend, obgleich niemand genau sagen kann, in welcher Weise er sich äußert. Lange Zeit ging Netanjahu der Ruf voraus, er spiele Freund und Feind gegeneinander aus. Er galt nicht als ein Ausbund an Vertrauenswürdigkeit. Auf Sarahs Einfluss sei es zurückzuführen, dass er gegenüber anderen Menschen „offener“ und „gelassener“ geworden sei. Neben diesen positiven Eigenschaften hat Sarah Netanjahu mehrmals für negative Schlagzeilen in Bezug auf die Behandlung ihrer Hausangestellten gesorgt. Darüber hinaus polarisiert sie und ist sehr bestimmend, hat auch in der Politik „die Hosen an“. Mehr Furcht als Respekt wird ihr entgegengebracht.

Netanjahu war bereits von 1996 bis 1999 Ministerpräsident Israels. Den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton desavouierte er in jener Zeit ebenso wie heute den Präsidenten Barack Obama. Schon unter Clinton durfte er vor beiden Häusern des US-Kongresses sprechen. Der Beifall damals war jedoch noch nicht so peinlich wie im Mai 2012, als die US-Abgeordneten wie auf Kommando 29 mal von ihren Sitzen aufgesprungen sind und frenetisch, wie in Trance seine überaus reaktionäre Rede beklatschten. Der New York Times-Korrespondent Thomas Friedman kommentierte: „ Ich hoffe, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Neanyahu versteht, dass die stehenden Ovationen, die er in diesem Jahr im US-Kongress bekam, nicht seiner Politik gegolten haben. Die Ovationen wurden gekauft und bezahlt von der Israellobby.”

Die Jahre seiner ersten Regierungszeit als Ministerpräsident verliefen innenpolitisch chaotisch. Seine Lieblingsfeinde waren „die Linken“ – im wesentlichen die sozialdemokratische Arbeitspartei, die die ersten Jahrzehnte des israelischen Staates geprägt hatte – und die von ihnen dominierten Medien; an diesem Popanz arbeitete sich Netanjahu ab. Dies bekamen auch die Palästinenser unter Jassir Arafat zu spüren, der von den so genannten linken Zionisten bis zum Scheitern der Camp David-Verhandlungen im Jahr 2000 unterstützt worden ist. Netanjahus größter politischer Fehler war der Giftmordbefehl gegen das Hamas-Mitglied Khaled Maschaal. Das Attentat durch Mossad-Agenten am 25. September 1997 in Amman scheiterte, und der jordanische König Hussein forderte Netanjahu ultimativ auf, unverzüglich das Gegengift zu liefern. In seiner ersten Amtszeit war Netanjahu ein Opfer seiner rechten Freunde und seiner sprunghaften Persönlichkeit. Selbst seine eigenen Anhänger witzelten: „Bibi schwindelt dermaßen, dass auch das Gegenteil von dem, was er sagt, noch eine Lüge ist.“ Netanjahu war es gelungen, Freund und Feind gegen sich aufzubringen. Seine reaktionäre und antisoziale Politik führte das Land innen- und außenpolitisch in eine Sackgasse. Der Schriftsteller David Grossmann schrieb am 8. Juni 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Israel machte die schwersten, destruktivsten und auch groteskesten Zeiten in seiner Geschichte durch.“ Selbst der ehemalige Ministerpräsident Yitzhak Schamir nannte Netanjahu einen „Engel der Zerstörung“, weil er die Likud-Partei zerstört habe. Für die Israelis ging mit seiner Abwahl 1999 die Zeiten der Täuschungen und Konfrontationen zu Ende. Ein bekannter Fernsehkommentator sagte am Tag danach: „Ein wunderbares Gefühl, morgen früh mit einem Ministerpräsidenten aufzuwachen, der die Wahrheit sagt.“

Doch schon 2001 kehrte der Likud an die Schalthebel der Macht zurück. Unter der Regierung von Ministerpräsident Ariel Scharon wurde Netanjahu Finanzminister. Er war verantwortlich für eine ökonomische Deregulierung, die wenig Rücksicht auf soziale Belange und, wie in allen westlichen Industrienationen, allein den Reichen nützten. Die Massenproteste in Israel seit letztem Jahr sind das Resultat seiner Wirtschaftsreformen.

Netanjahus Rückkehr als Premier seit 2009 war nur möglich, weil er sich mit extremistischen Koalitionspartnern wie der Shas-Partei und der „Russenpartei“ (Beitenu Israel) von Avigdor Lieberman verbündete. Dies hat zur weiteren Radikalisierung des Landes beigetragen und den religiösen Fundamentalismus gefördert. Einige Kommentatoren sprechen bereits von einem „jüdischen Iran“, oder, wie Gershom Gorenberg in seinem Buch "Israel schafft sich ab", von einer reaktionären „Neugründung Israels“.

Der größte Erfolg Netanjahus in seiner zweiten Regierungszeit war die Freilassung von 1.027 palästinensischer Gefangenen am 18. Oktober 2011 im Austausch für den von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit, der fünf Jahre im Gaza-Streifen gefangen gehalten worden war. Was Netanjahu ebenfalls erreicht hat, ist die forcierte Kolonisierung der besetzten palästinensischen Gebiete und damit die Demütigung von US-Präsident Obama und sogar von dessen pro-zionistischen Vizepräsidenten Joseph Biden. Letzterer wurde bei seinem Israel-Besuch im März 2010 durch die Ankündigung neuer Siedlungen in Ost-Jerusalem öffentlich bloßgestellt, obgleich er bei seiner Ankunft gesagt hatte: „Es ist gut, zu Hause zu sein!“ Eigentlich sollte man denken, dass ein US-Vizepräsident in den USA und nicht in Israel „zu Hause“ ist.

Oberste Priorität für Netanjahu hat jedoch die militärische Konfrontation mit Iran. Über die „Israellobby“ nimmt er massiven Einfluss auf den innenpolitischen Entscheidungsprozess der USA. Zu seinen Unterstützern zählt AIPAC, die wichtigste pro-Israellobby, darunter christliche Fundamentalisten, die eine endzeitliche Schlacht um das Heilige Land („Armageddon“) predigen, sowie der Glücksspiel-Magnat Sheldon Adelson und Ronald Lauder, Erbe des Lauder Kosmetik Imperiums.

Netanjahu und seine Unterstützer in den USA haben wesentlich dazu beigetragen, dass der US-Kongress ein mörderisches Sanktionsregime gegen Iran verhängt hat. Wie aufgeheizt die Kriegsstimmung ist, zeigt die Tatsache, dass am 30. August Generalstabschef Martin Dempsey bei seinem Besuch in London erklärt hat, dass das US-Militär nicht „mitschuldig“ (complicit) sein wolle, sollte Israel den Iran überfallen.

Selbst innerhalb des israelischen Sicherheitsestablishments gibt es heftigen Widerstand gegen eine israelische Attacke auf die Nuklearanlagen Irans. Mehrere Ex-Geheimdienstchefs lehnen einen solchen Angriff ab, weil Israel nicht existentiell bedroht sei. Die einzigen, die zu einem Waffengang wild entschlossen sind, scheinen Netanjahu und sein Verteidigungsminister Ehud Barak von der Arbeitspartei zu sein. Der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Juval Diskin, bezeichnete beide als „messianisch“ – in Anspielung auf das Alte Testament, wo der Messias („der Gesalbte“) den Ewigen Frieden nach der ultimativen Schlacht bringt. Dieser endzeitliche Fanatismus lasse, so Diskin, politische Vernunft vermissen. Würde man, wie Netanjahu und Barak fordern, die iranischen Anreicherungsanlagen angreifen, so würde dies das Atomprogramm des Landes nicht beendigen, sondern im Gegenteil beschleunigen. „Was die Iraner heute langsam und ruhig machen, werden sie dann (nach einem israelischen Militärschlag) schneller und in kürzerer Zeit tun.“ In Anspielung auf die Luxussiedlungen, in denen Barak und Netanjahu wohnen, sagte Diskin: „Wollen Sie darin unsere zwei Gesalbten erkennen? Der eine aus Akirov (...), der andere von Caesarea?“ Und weiter: „Ich sage Ihnen, ich habe sie mir aus der Nähe betrachtet, und sie sind nicht Messias. Und es sind keine Leute, denen ich persönlich zutraue, Israel in ein Konfrontation von dieser Größenordnung hinein- und dann auch wieder herauszuführen.“

Zuerst erschienen hier.